Das Ritual

 

oder

 

Das Ritual 

oder 

 CRYSELLA UND DER SCHWARZE MOND 

 

Das ist die mystisch fantastische Geschichte der Bibliothekarin

Crysella, die ihre Doktorarbeit über das heikle Thema

Lilith- Mythos oder Trauma - schreibt und währenddessen

die unglaublichsten Dinge erlebt.

 

Für das Buch wurde der Text natürlich gründlich überarbeitet

 

             

 

                                                         Leseprobe:

 Mein Mond

Am Himmel hängt der Halbmond
Er ist noch nicht ganz voll
Ich weiß nicht was ich mit dem Halbmond
Anfangen soll

Denn nur in Vollmondnächten
Flieg ich hin zu dir
Verlasse meine Hülle
Werde zum Vampir

Muss dein Blut aussaugen
Deine Seele auch
Muss spüren wildes Feuer
In meinem leeren Bauch

In der Hölle mit dir tanzen
Über Asche Glut
Im Gestank des Schwefels
Ach wie wohl das tut

Verbrennen in der Hölle
Mit dem was übrig bleibt
Mit Körper Geist und Seele
In die Unendlichkeit

Tausend Sterne werden fallen
Vom dunklen Himmelszelt
Doch schöner noch als alle
Strahlst du mein Mond

Mein Freund

*

 - Wer in die Tiefe seines eigenen Ichs hinabsteigt, entdeckt dort nur das Nichts. Wenn er sich und die Welt vergessen will, muss er sich der Liebe hingeben, deren Priesterinnen leichter ihren Körper als ihr Herz verschenken und das Symbol des Verderbens sind. -
 

Ich weiß, was ich glaube.


Geübt glitten ihre Finger über die Tastatur.
„Das Werk des Dichters Baudelaire steht unter dem Einfluss des Schwarzen Mondes.“Crysella hielt einen Moment inne, bevor sie schnell weiter schrieb: „Er besang die Zerstörung. In seinen Versen wechseln sich Gut und Böse, Leben und Tod, Zurückweisung und Hingabe ab. Die einzige und höchste Wollust der Liebe läge in der Gewissheit, das Böse zu tun, schrieb er. Und Mann und Weib wüssten von Geburt an, dass das Böse alle Wollust enthalte.“

Langsam nahm sie die Finger von der Tastatur. Ricardo eilte die Treppe zum Schlafzimmer hinauf. Sie hörte, wie er hastig zwei Stufen übersprang und dann im Schlafzimmer verschwand.
 „He, Ricardo. Komm runter!" Schnell 
erhob sie sich von ihrem spartanischen Computerholzstuhl und ging in die Küche, das Frühstück zu bereiten. „Wir frühstücken!“
 
Da stand Ricardo plötzlich vor ihr, in jeder Hand einen Koffer.„Bin schon da“, sagte er fröhlich, küsste sie leicht auf die Wange und flüsterte in ihr Ohr: “Bis dann, Liebste.“

„Aber das Frühstück. Ricardo.“
Wie aus weiter Ferne vernahm Crysella das Geräusch des Motors ihres gemeinsamen BMW und rannte hinaus in den Garten. Das Tor stand weit offen. Das Auto war weg. Ricardo war weg. Ungläubig schlich sie zu der weißen Bank. Noch gestern Abend hatte sie mit Ricardo hier gesessen. Hand in Hand. Und den Sternenhimmel beobachtet. Und die weißen Blüten des Kirschbaumes waren auf sie herab gefallen.
Als es Abend wurde, saß sie noch immer auf der weißen Bank. Dämmerung hüllte sie in ein Gefühl zwischen Traum und Wachen. Die laue Frühlingsluft war erfüllt von dem geheimnisvoll süßen Duft, den die Natur wie in jedem Jahr großzügig verströmte. Die blühenden Bäume erglänzten matt im Schein der untergehenden Sonne. Letzte Bienen schwirrten leise summend umher. Die Vögel sangen ihr Abendlied, wiegten sich im dichten Blütenmeer des Kirschbaums. Alles war wie immer. Nur sie nicht.
 
Traurig starrte Crysella in das silbrige Licht des Mondes. In ihrer Seele schien alles Licht erloschen.  Plötzlich wechselte der Mond die Farbe; er wurde schwarz, war nicht mehr zu unterscheiden von der Dunkelheit des Himmels.
 Echt gruselig. 

Crysella fror plötzlich. Sie würde allein sein in dem großen Haus. Ricardo wusste doch, dass sie sich fürchtete, wenn er nicht da war. Wie konnte er ihr das antun. Wenn er sonst auf Reisen ging, hatte immer Gabi bei ihr geschlafen. Ja, Gabi war eine gute Freundin. Außerdem hatte er nichts von einer Reise gesagt. Aber er hatte die beiden Koffer bei sich. Die Reisekoffer. Seltsam war das schon.

Es war empfindlich kühl geworden. Und stockdunkel. Der Mond war auch verschwunden.
 Fröstelnd erreichte Crysella das Haus, schlich wie eine Diebin durch die Zimmer. Alles erschien ihr fremd. Fremd, doch auch vertraut. Und geheimnisvoll. Ihr war, als würde sie dieses Haus zum ersten Mal betreten. Ein Geisterhaus, in dem es aus allen Ecken zu wispern und zu flüstern schien. Schaudernd knipste sie das Licht an. So, schon besser. Aber das seltsame Gefühl verschwand nicht. Ein dünner Schweißfilm bildete sich auf ihrer Stirn. Schnell ins Bad.
 
Auf dem Frisiertischchen sah sie etwas blinken und blieb verwundert stehen. Da lag es. Ein Messer. Das Messer. Verwundert nahm sie es in die Hand, betrachtete es von allen Seiten, strich immer wieder über die scharfe Klinge.

„Das Buschmesser. Ein selten schönes Exemplar."
 Das hatte Ricardo mal von einer seiner Afrikareisen mitgebracht und bestimmt heute hier aus Versehen liegen gelassen. Schnell weg damit. In die Schublade.

Schon wollte Crysella dem Gedanken die Tat folgen lassen, als ihr Blick in den Spiegel fiel und sie zu Tode erschrak. Instinktiv wich sie einen Schritt zurück. Trat näher. Wich zurück. Trat näher. Das konnte nur ein Trugbild sein. Ein Trugbild ihrer überreizten Sinne.
 Der Spiegel zeigte eine fremde Frau. Eine wunderschöne Frau, mit großen, hellen Augen. Die Brüste voll und rund. Die Haut weiß wie Marmor. Und Haar, das an züngelnde Flammen erinnerte, fiel in gleichmäßigen Wellen bis zur Taille.

Wie hypnotisiert versank Crysella in den grünen Augen dieser wunderschönen fremden Frau.
 Ein Mondstrahl irrte durch das Fenster, tanzte golden auf dem Haar der Schönen, ließ es erschimmern in kupferroter Pracht und verschwand.
 
„Wer bist du?“ Mit ihren Fingern zeichnete Crysella das Oval dieses ungewöhnlich schönen Gesichts der wunderschönen Frau nach. „Sag mir, wer bist du.“
 Die Frau lächelte geheimnisvoll, spitzte ihre vollen, roten Lippen wie zu einem Kuss und sagte mit einer Stimme, die wie zärtliche Musik in Crysellas Ohren klang, wie beschwörend:

"schwarze Träume
wecken in dir die Glut
des Verlangens
glühen schmerzvoll
in wilder Sehnsucht
die du nicht stillen kannst
 zu schwach sind deine
melancholischen Visionen
doch höre
Kraft meiner Zaubermacht
entflamme ich in dir
düsterste Begierden
unendliche Lüsternheit
Liebe
Trauer
peinvolles Leid
und so wie diese wachsen
wächst deine Abhängigkeit
mein Geist
umschlingt einer Schlange gleich
deinen Körper
verbrennt deine Wünsche
zwischen meinen Händen
werden deine Träume zerfließen
schreien nach den
Gottlosesten Sünden
und Todesschmerz
eiskalt dein Herz umhüllen
und deine Seele
den Weg alles Sterblichen gehen

komm

press deinen Mund auf meinen Mund
ich trinke deine bittersüße Schuld
 komm
 nimm ihn hin
den Kuss des Todes
die Sünden der Schöpfung sind köstlich
die Dämonen unersättlich.“

Erschrocken wich Crysella einen Schritt zurück. Noch war sie nicht imstande zu glauben, was sie sah, was da vorsich ging und stand wie erstarrt.

„Asche zu Asche", fuhr die Frau in ihrem monotonen Singsang fort,
vom Leben zum Tode
dir gehört der erbarmungswürdige Leib
mir aber gehört die Seele.“

Crysella war, als hätte die Frau im Spiegel diese Worte nicht zu ihr, sondern in den Raum hinein gesprochen.

„Wer bist du?“, flüsterte sie, „sag mir bitte, wer du bist.“

„Ich bin Lilith", sagte die Frau leise und krümmte ihren rechten Zeigefinger, so als wolle sie Crysella auffordern,  näher zu treten. "Dein Schatten."

An dem weißen schlanken Finger der Frau funkelte ein schwarzer Ring aus Hämatit, zur Hälfte mit einer goldenen Schlange verziert. Verführerisch wandt sich diese um einen grünenden Zweig, der zum Ende in einer Spitze auslief, die ein  winziges schwarzes Kreuz krönte, verziert mit einem Diamanten. 

*

Crysella erwachte. Sie lag in einem Zimmer, in dem alles weiß war. Das Bett. Die Wände. Die Decke. Alles.
Ein junger Mann betrat das Zimmer, nahm ihre Hand, fühlte den Puls.
Also bin ich im Krankenhaus, dachte sie erschreckt, wo sonst wird einem der Puls gefühlt. Wo sonst ist alles weiß. Ekelhaft. Weiße Wände konnte sie noch nie leiden.
Stumm starrte sie an die Zimmerdecke. Dann, wie von oben, auf sich herab.
Ihre langen, braunen Haare lagen lose auf dem Kopfkissen, umhüllten wie ein Fächer ihr schmales Gesicht. Ihre Hände trommelten rhythmisch auf die Bettdecke.
 „Alles in Ordnung“, sagte der Doktor. „Das kriegen wir schon wieder hin.“ Beruhigend legte er seine Hände auf ihre. „Wir brauchen nur etwas Ruhe.“
 
„Gott sei Dank.“ Das war Gabi! Vorsichtig setzte sie sich auf die Kante des Bettes. "Du lebst.“
 
„Mensch, Gabi. Wo kommst du denn her?“ Crysella zog Gabis Kopf zu sich herab und küsste sie auf die Wange. „Natürlich lebe ich. Wieso sollte ich auch nicht. Scherzkeks. Aber vielleicht kannst du mir mal verraten, wie ich hier her gekommen bin. Ich habe nämlich Nullahnung.“
 
„Ich wollte dich besuchen. Hab geklingelt und geklingelt. Aber niemand hat geöffnet. Und nirgends brannte Licht. Und weil ich auf einmal so ein mulmiges Gefühl hatte, bin ich um das Haus herum gegangen und habe gesehen, dass ein Kellerfenster offen stand.“
 
„Und da bist du durch.“
 „Ja. Und habe dich im Bad, auf den kalten Fliesen liegend, gefunden. Ohnmächtig. Was meinst du, was ich für einen Schreck bekommen habe.“

„Ach, du lieber August.“
 „Und da habe ich natürlich die Feuerwehr gerufen. Ich fürchtete schon, du seist tot.“
 
„Du spinnst doch.“
 
„Nein. Es ist Tatsache. Aber es wird schon wieder.“

Es wird schon wieder. Nichts würde wieder.
Crysellas letzte Erinnerung war Lilith. Die schöne Frau im Spiegel. Vorsichtig setzte sie sich auf. Aber das konnte nur ein Traum gewesen sein. Der Spiegel kann nur das eigene Bild wiedergeben. Mein Gott, ist das alles kurios. Verwirrt legte sie sich wieder hin. Vielleicht träumte sie ja alles nur. Und kann nicht erwachen. Ein Traum im Traum. Das soll es ja geben.
 
Plötzlich war auch Gabi wieder verschwunden. Einfach so. Ohne sich zu verabschieden. Kommt und geht. Wie ein Spuk. Also doch ein Traum. Erschöpft schlief sie wieder ein.
 *

„Sie können gehen.“ Der Doktor lächelte freundlich. „Aber ich rate Ihnen, sich in psychiatrische Behandlung zu begeben, damit Sie das Trauma Verlassenwerden verarbeiten können.“

Verlassenwerden. Ach, ja. Ricardo hatte sie also verlassen. Einfach so. Na, wenn schon. Es geschieht doch tagtäglich, dass Jemand Jemanden verlässt. Davon stirbt man nicht. Selbst erstaunt ob ihrer unangebrachten Gefühlskälte, war Crysella überzeugt, gebrochene Herzen gehörten in Seifenopern. Nicht in ihr Leben. Mit diesem Judas Ricardo hatte sie nichts mehr im Sinn. Aus und vorbei. 

„Und einen Seelendoktor brauche ich auch nicht“, murmelte sie. „Und in dem Haus kann ich natürlich auch nicht bleiben.“

Nach einigem Suchen fand Crysella eine Wohnung im Zentrum der Stadt. Zwei Zimmer. Küche. Bad. Das musste reichen. Sie war ja nun allein. Auch gut. Der Garten würde ihr fehlen. Doch um sie herum pulsierte das Leben. Das neue Leben. Einkaufsstraßen, Neonlicht, Kino, Theater, Kaffees, Bars. Auch ein kleiner, gepflegter Park an der Ecke würde von nun an ihr Zuhause sein. Sozusagen als Ersatz für den Garten. 

So richtete sie sich ihre erste eigene Wohnung nach ihrem Geschmack ein. Das gab Selbstbewusstsein. Ein ganz neues. Unbekanntes. Mit Schrecken erkannte sie, dass sie sich in der Vergangenheit doch sehr von dem Geschmack ihrer beiden Männer beeinflussen lassen hatte. Erst von Wills. Danach von Ricardos. Und beide Male war es schief gelaufen. Oh, Mann. Doch jetzt war sie bereit, ihr Leben zu leben. Und nur ihres.
Als Erstes rief sie Rudi an. Einen langjährigen Freund. Rudi war Schriftsteller. Nein, nein, kein sehr erfolgreicher. Aber was heißt das schon. Erfolg hat derjenige, der tut, was er sich vorgenommen hat, hatte sie mal gelesen. Na, also. Ein richtiger Künstler schert sich die Bohne ums Geld. Na, jedenfalls hatte Rudi sich und ihr den ersten Computer gekauft.
„Du bist Bibliothekarin“, hatte er gesagt. „Und damit kompetenter als ich. Was Literatur anbelangt. Also wirst du meine Arbeiten korrigieren.“
 
„Ricardo ist verschwunden“, sagte sie jetzt.
 
„Wie verschwunden?“
 
„Na, verschwunden. Er hat seine Koffer mitgenommen.“
 
„Vielleicht ist er zu einer anderen Frau gezogen.“ Rudi lachte unverschämt. „Man kann ja nie wissen.“
 
„Schöner Freund“, schmollte Crysella. Sie legte auf und rief Will an. Ihren Ex.
 
„Ist das eine Überraschung“, freute sich Will. „Wann können wir uns sehen?“
 
Die Erinnerung war da. Das Leben mit Will. Seine Freundlichkeit und Zärtlichkeit und seine etwas zu väterliche Liebe.

*


Crysellas Herz klopfte wie verrückt, als Will ihr mit einem bunten Blumenstrauß entgegenkam.
Die Sonne schien noch sommerlich warm. Die freundliche Kellnerin führte sie zu dem lauschigen Platz. Alles war wie früher. Der weiße Kunststofftisch. Zwei weiße Kunststoffstühle. Der große Sonnenschirm mit seinen gelben Sonnenblumen unter dem Kastanienbaum. Es war, als sei die Zeit stehen geblieben. 
Auch Will hatte sich nicht verändert. In all den Jahren. Jedenfalls nicht äußerlich. Die dunklen Haare trug er noch immer zu einem Zopf geflochten. Und die ergrauten Schläfen gaben ihm wie ehedem etwas von einem modernen Don Juan. Er bestellte ihren Lieblingswein, mit dem fernöstlichen Duft. Seltsam. Sie trank ihn seit Ewigkeiten nicht mehr. Ricardo verabscheute süßen Wein.
Lachend stießen sie auf ihr Wiedersehen an. Schauten sich tief in die Augen.

Gut sah Will aus. Sehr gut. Warum hatte sie ihn nur verlassen.
Als hätte Will ihre Gedanken erraten, nahm er ihre Hände und sagte:
„Warum haben wir uns eigentlich getrennt.“ 
„Schicksal. Deine Hobbys. Deine Arbeit.“Crysella lächelte in Erinnerung ihrer sinnlosen Streitereien.
 
„Ich habe dich geliebt.“
 
„Und ich dich.“
 
„Und dann kam Ricardo.“
 
„Und nun ist er weg.“
 
„Ich bin immer für dich da. Ein Wort und ich eile.“
 
„Meine Männergeschichten waren rein platonisch.“
 
„Ich weiß.“
 
Ja. Will wusste immer alles. Vielleicht ging ihr das auf die Nerven.
Von nun an trafen sie sich oft, telefonierten fast täglich und die alte Vertrautheit stellte sich schnell wieder ein. Ihr Leben schien noch einmal eine glückliche Wendung genommen zu haben. Sie dachte kaum noch an Ricardo. Doch dann träumte sie eines Nachts von ihm. Und mit diesem Traum sollte sich ihr Leben auf grauenvolle Weise verändern.

*

Es war ein wunderschöner Tag und noch früher Morgen. Grüne Wiesen leuchteten feucht vom Tau der Nacht. Vögel zwitscherten in den erwachenden Tag. Glutrot hob sich die Sonne aus dem Osten.
  Hand in Hand schlenderte sie mit Ricardo dahin. Von einer nahen Quelle murmelte ein Bächlein.Lachend schöpften sie das klare Wasser mit ihren gehöhlten Händen, tranken gierig, bespritzten sich, warfen sich dann jauchzend ins hohe Gras.  Liebevoll nahm Ricardo ihr Gesicht in seine Hände, küsste sie leidenschaftlich auf den Mund.
 
„Das ist der letzte Kuss“, sagte er mit seiner ganz normalen Stimme, so, als würde er sagen: ‚Vergiss die Zigaretten nicht. Und das Bier’. „Ich verlasse dich. Du bist meiner nicht wert. Dich werden immer alle verlassen.“ Er lachte höhnisch. „Und jetzt liebe ich dich – nein, ficke ich dich ein letztes Mal.“ Grob griff Ricardo in Crysellas langes Haar, zerriss mit einem Ratsch ihr kurzes, weißes Kleid, unter dem sie nackt war. Dann drückte er sie mit einer Hand gewaltsam auf die feuchte Erde, während die andere an seiner Jeans nestelte. Und fast im selben Augenblick spürte sie sein Glied an ihrem Mund.
 
„Nein. Ich will nicht!“
 
„Dann in das andere Löchlein. Her damit.“ Ricardo lachte höhnisch. „Du prüdes Ding, du. Dich werde ich jetzt mal so richtig durchrammeln.“ Schon folgte seinen rüden Worten die Tat.
 
Crysella wollte schreien. Doch kein Laut kam über ihre Lippen. Sie wollte sich wehren. Doch sie war wie erstarrt. So, als hätte sie eine Droge genommen, die alle Muskeln lähmt, aber die Sinne übersensibilisiert, war sie nicht in der Lage, etwas zu tun. Konnte nur stillhalten. Und während sie sich, völlig willenlos, ergab, wandelte sich das Entsetzen zu ihrem Entsetzen in Lust.In pure Lust. Sie wünschte, Ricardo wäre ewig so in ihr, so wild, brutal, ungestüm. Ein unbekanntes Feuer verbrannte ihren Unterleib, die Starre wich von ihr, sie entspannte sich, kam Ricardo sogar entgegen, umschlang seinen Körper mit ihren Beinen, suchte seinen Mund, gierte nach seiner Zunge, schrie sinnlose Worte, steigerte sich von einer Ekstase in die nächste, wand sich unter Ricardos Händen, den immer hektischer werdenden Stößen, drehte sich auf den Bauch, verging in nie gekannter Lust, Wollust.
 
„Liebe mich“, bettelte sie, „liebe mich.“ 
„Aber sicher doch.“ Ricardo krallte seine Finger fester in ihr Haar, zog ihren Kopf nach hinten. „Du geiles Weib. So gefällst du mir.“ Mit einem Aufschrei stieß er noch einmal tief in sie hinein und sagte kalt: „Schade, dass du nicht so geil warst, als wir zusammen waren.“
 
Abrupt ließ er von ihr, lachte laut und höhnisch und lief mit großen Schritten über die Wiese in den nahen Wald.  
 
Wie betäubt hockte Crysella vor dem Bächlein im grünen Gras, die Arme um die Knie geschlungen, wiegte sie hin und her, hin und her, zitterte am ganzen Körper.Ricardo hatte sie missbraucht, gedemütigt, verlassen.Um sie herum war Dunkelheit. Undurchdringliche Schwärze, unbarmherzig fiel sie tiefer und tiefer, umschwemmte sie mit ihrer Leere, ihrem Grauen. Ihrer Stummheit. Nur ein Gedanke war in ihr: das konnte nur ein Traum sein. Ein schrecklicher Albtraum. Sie musste sofort erwachen, ehe dieser Albtraum Realität würde.„Nein! Nein.“
Crysella erwachte. Schweißnass lag sie zitternd auf ihrem Bett. Der Albtraum war ein Albtraum.

*

Der Regen prasselte an die Fensterscheiben. Dunkle Wolkenberge trieben am Himmel.
 Crysella stieg, noch immer zitternd, aus dem Bett, wankte zum Fenster, zog die Vorhänge zu. Der verrückte Traum ging ihr nicht aus dem Sinn; er war so realistisch, so gegenwärtig.
Immer wieder erlebte, durchlebte sie ihn. Wieder und wieder. Sie spürte Ricardo in sich, seine brutale Härte. Vernahm schmerzlich die lieblosen Worte. Ricardo war doch eher von sanfter Natur. Und stets Gentleman. Auch in Sachen Sex. Und nun dieser Traum.
 
Wo mag Ricardo jetzt wohl sein.
Zum ersten Mal bedauerte sie, keine Träume deuten zu können. Bestimmt hatte dieser Traum etwas mit Lilith zu tun. Der schönen Frau im Spiegel. Wenn sie an sie dachte, zog so ein seltsames Gefühl durch ihren ganzen Körper, so ein erregendes, nicht erklärbares Gefühl.
 „Das wird es wohl sein“, murmelte sie. „Sie verfolgt mich.“

Mit Gewalt versuchte Crysella die Lilith im Spiegel und auch den schrecklichen Traum zu verdrängen. Sie musste ihre Arbeit beenden. Es wäre eine Katastrophe, wenn sie sie nicht termingerecht abgeben könnte. Verrücktes Thema – Lilith – Mythos oder Trauma -. Ein aktuelles Thema. Jetzt, wo die Frauen wieder verstärkt um ihre Gleichberechtigung kämpfen. Teilweise auch mit Erfolg. Seit den Siebzigerjahren hatte sich ja nicht mehr viel getan. Immerhin hatte sie viel Zeit mit der Recherche verbracht. Die Frauen in Frankreich sind da schon viel weiter. Und die Frauen in der ehemaligen DDR erst Recht. Da war die Gleichberechtigung sogar gesetzlich verankert. Und die Frauen haben sie gelebt. Selbstbewusst und konsequent. Na, alles schön und gut. Aber was bedeutete dieser seltsame Traum. Reglos lag sie auf ihrem Bett, grübelte und versuchte verzweifelt in die Realität zurückzufinden.Der Traum quälte sie Nacht für Nacht. Verlor nicht seine Schrecken, trieb ihr neues Leben erbarmungslos in eine Richtung, die sie weder beeinflussen noch steuern konnte.

Eines Tages erwachte sie wieder aus unruhigem Schlaf. Der verdammte Albtraum war gegenwärtig wie nie zuvor. Die Haare klebten ihr im Gesicht. Ihre Hände waren ins Kopfkissen gekrallt. Ihr Herz schlug rasend. Und wieder regnete es.
Sie stand auf, zog die Vorhänge zu. Es war wie ein Ritual. Nacht für Nacht.
Noch ganz benommen, knipste sie das Licht an, setzte sich vor den Computer, schrieb das unwirklich wirkliche Erlebnis in ihren Geliebten.
 
Plötzlich vernahm sie eine eigenartige Musik. Liebliche Harfenklänge, Schluchzen und Weinen und dazwischen einige schnelle Tanzrhythmen. Dann wieder vermeinte sie, herzzerreißende Flötentöne zu vernehmen und lauschte hingebungsvoll diesen ungewöhnlichen Klängen.Es schien, als würden Tiere sie hervorzaubern. Die Musik erinnerte sie an einen Besuch im Britischen Museum. Dort war ein Fuchs zu sehen, der eine Doppelflöte spielte. Und in dem satirischen Papyrus Turin soll es ein Quartett von Tieren geben, die Instrumente spielen.Der Esel spielt die Harfe, der Löwe die Leider, das Krokodil die Laute, der Affe die Doppelflöte.
Allerdings war das im Alten Ägypten.
Vielleicht war die Musik ja auch nur in ihrem Kopf. Der Schlafmangel schien sich bemerkbar zu machen.
Sie stand auf, machte einige gymnastische Übungen und begann plötzlich zu tanzen

Hingebungsvoll tanzte sie zu der ungewöhnlich geheimnisvollen Musik. Ihr Körper schien sich ohne ihr Zutun zu bewegen, zu verschmelzen mit dem Rhythmus dieser lieblichen Töne. Immer machtvoller erklang die Musik, mysteriöser, magischer.
Ihre Hände glitten ihren Körper entlang; sie streifte ihr kurzes Hemd herunter, griff in ihr volles, braunes Haar, neigte anmutig ihren Kopf, vollführte einen imaginären Schleiertanz; immer schneller drehte sie sich im Kreis, schneller, wilder, sehnsüchtiger. Bald hatte sie alles um sich herum vergessen, ergab sich willig der Musik. Zärtlich und leidenschaftlich. Und ihr Körper, dessen Bewegungen mit den lieblichen Tönen verschmolzen, wand sich schlangengleich.Ihr schien, als würde sie zu den im Nebel der Zeit verborgenen Inseln des Glücks tanzen und ein süßes Ziehen erfasste all ihre Sinne.
Doch plötzlich erstarrte sie in der Bewegung.

An der dem Fenster gegenüberliegenden Wand tanzte ein Schatten, wuchs und wuchs, nahm endlich Gestalt an. Überdimensional, furchteinflößend.
Instinktiv duckte sie sich wie zum Sprung, obwohl sie doch lieber die Flucht ergriffen hätte.
 
„Erschrick nicht“, sagte der Schattenmann da mit dunkler Stimme. "Ich bin Seth."
Seth. Etwa Der Seth? Seth. Wie kommt der in ihr Zimmer. Seth ist doch der böse Gottkönig aus dem altägyptischen Osiris – Mythos, erinnerte sie sich. In diesem Gott zeigen sich sadistische Wesenszüge. Diabolische Heimtücke. Mordlust. Rache. Seth war der Herrscher über Unterägypten. Er hatte einen Bruder. Horus. Dieser herrschte über Oberägypten. Beide waren sie Söhne des Osiris, dem Totengott, und Isis, der Himmelskönigin. Seth tötete seinen Vater, um Horus das Erbe streitig zu machen. Doch er unterlag im Kampf mit Horus und verlor all seine Macht. Nun herrschte Horus über beide Reiche. Horus war der gute Sohn. Seth der böse.
„Doch das war nicht immer so“, sagte da Seth, als könne er Gedanken lesen. „Es ist auch überliefert, dass ich als Schutzgott in Eintracht neben Horus gestellt war. Und um diesen zu erhöhen, hat man mich später in die perverse Rolle des Vatermörders gedrängt. Seither trage ich die Maske des Bösen. So wie sie mir die geistliche Überlieferung aufgesetzt hat.“
 
Seht, der Schattenmann, löste sich langsam von der Wand.
Crysella erschauerte bei seinem Anblick, der sie erschreckte und gleichzeitig anzog.
Seths rote Haare standen zu Berge. Sein bleiches Gesicht glich einer Totenmaske, Augen wie Feuer versanken in ihren. Doch nun verspürte sie kein Fünkchen Angst mehr. Im Gegenteil. Die ganze Erscheinung flößte ihr auf seltsame Art Vertrauen ein.
Langsam kam Seth auf sie zu, umschloss ihren Körper mit seinen langen Armen und flüsterte:
 
„Ich bin der Herr des Gewittersturms. Der Gott des heißen Südwindes. Der Atem der Esel.“ Sanft legte dieser vielseitige Gott Crysella auf ihr Bett. „Es gibt viel über mich zu berichten.“ Zärtlich erkundete er ihren erstarrten Körper. „Ich bin die Personifikation der Wüste, der Schutzgott der Karawanen, der Gott der aus der Wüste kommenden Dürre, Unwetter und Stürme. Als Herrscher über die Randgebiete bin ich Schutzgott der Fremdvölker, der Kraft- und Kampfgott. Mein Attribut ist ein Zepter, das an der Spitze Eselsohren trägt.“
Crysella erzitterte unter Seths zärtlich fordernden Händen, seinen wilden Blicken, den einschmeichelnden Worten. Seiner wahnwitzig erregenden Aura.
 
„Ja, ich weiß“, fuhr er fort, „ man stellt sich mich immer ungeschlacht und wild vor, mit rotem Haar und weißer Haut.“ Er küsste Crysella auf den Mund. „Das bin ich ja auch. Mein Symboltier ist Hund oder auch der Schakal, der Esel, die Antilope, auch Gazelle, Krokodil, Nilpferd, und sogar das Schwein. Und soll ich dir mal was verraten? Ja. Täglich bekämpfe ich vom Bug der Sonnenbarke aus die dämonische Riesenschlange Apophis. Mit dem falkenköpfigen Horus lebe ich im ständigen Streit. Und ich neide Osiris seine schöne Gestalt.“
 
„Du bist wunderschön." Crysella verging fast in Seths langen Armen, schmolz dahin in eine unbekannte Welt der Sinne, der verbotenen Lüste. „So wunderschön.“
 
„Ich repräsentiere die dunkle Seite der Polarität“, raunte Seth. „Die Griechen kennen mich als Typhon, die christlich-koptischen Priester, die mich in Ägypten kennen lernten, identifizierten mich als Satan.“ Seth lachte wild auf, riss Crysella ungestüm auf seinen zuckenden Leib. „Nach der Bibel bin ich der Stammvater der vorsintflutlichen Sethiten, der nach Kain und den von diesem erschlagenen Abel dritte Sohn Adams und Evas.“ Wild drang er in Crysella. "Und jetzt kommen wir zur Sache.“ Er lachte schallend. „Wie ihr Erdenmenschen diese Sache nennt.“

In dieser Nacht vermählte sich Crysella mit Seth, wurde Fleisch von seinem Fleisch, Geist von seinem Geist. Blut von seinem Blut.
 
„Räche dich“, flüsterte er, während er unwiderruflich Besitz von ihr ergriff, wild, zärtlich, mit dem nie verlöschenden Feuer der Leidenschaft. „Räche dich.“
 
Lange, sehr lange, lagen sie nackt auf ihrem Bett.Die altägyptische Gottheit und sie. Die Erdenfrau Crysella.
 
„Mit mir wirst du Ricardo, diesen erbärmlichen Erdenwurm, vergessen“, flüsterte der Wüstengott, der Gott des Chaos, der Gott des Verderbens. „Räche dich.“
Räche dich.
  Mordlust. Rache. Diese Worte gehörten nicht zu Crysellas Wortschatz, geschweige der Gedanke der Tat. Doch sie würde willig den Einflüsterungen ihres Nachtgemahls folgen. Dessen war sie sich sicher.
 
Entsprungen einer ihr unbekannten Quelle, vergleichbar einem stillen Wasser, das, durch unerwartete Wolkenbrüche aufgeschreckt, anschwillt, steigt und steigt, und schließlich, über die Ufer geschwemmt, alles, was sich ihm in den Weg stellt, mitreißt, mit wildem Ungetüm zerstört, um dann, vielleicht, endlich wieder in sich Selbst zu versinken, war sie Seth verfallen, ihm hörig mit Leib und Seele.
 
Ja. Seth, der Schattengott, war in sie gefahren. Sie waren ein Geist. Ein Fleisch. Ein Blut. Und das unbändige Hassgefühl, das von nun an ihre Seele vergiftete, wurde Teil ihres Lebens; sie nahm es mit in ihren Tag.
Seth erschien jede Nacht.
Sie war glücklich und fasziniert von den Abgründen, die sich ihr auftaten.
 
Wo ist die Grenze zwischen Liebe und Hass, dachte sie, noch erfüllt von Scham, Gier, ungezügelter Leidenschaft.Ist sie eine Gradwanderung zwischen Gut und Böse. Wie tief ist der Abgrund zwischen Verstand und Gefühl.n Wie ist es mit den Geistern, die sie rief?
Das reale Leben war ausgelöscht. Es fiel ihr immer schwerer, Traum und Fiktion von der Wirklichkeit zu unterscheiden. Sie schrieb wie besessen. Schrieb über das Leben der - Die andere Frau -, die so viel Ähnlichkeit mit ihr selbst hatte. Alles vermengte sich. Und sie geriet in einen chaotischen Zustand, aus dem sie nicht mehr heraus fand; sie sehnte die Nächte herbei, in denen Seth erschien und sie liebte.
 
„Du musst Ricardo töten“, verlangte er eines Tages, während sie in seiner lüsternern Umarmung verging. 
 
„Ich bin doch keine Mörderin“, wehrte sie sich schwach.
 
„Dann schreib.“ Seth verschwand.

Doch der teuflische Gedanke des Tötens ließ Crysella nicht zur Ruhe kommen, beflügelte mehr und mehr ihre aufgeputschte Fantasie, nahm Besitz von ihrem verlorenen Ich. Und anstatt ihre Doktorarbeit zu schreiben, schrieb sie die Geschichte ihrer vergessenen Liebe. Das Leben der anderen Frau.
Die Schleusen ihrer verschlossenen Seele hatten sich geöffnet. Einsam saß sie vor ihrem Geliebten, der gierig ihre Liebe schluckte. Ihren Hass. Ihre Ängste. Ihr Leben.
An der Wand wachte Seth. Das Licht des Vollmonds erhellte das Zimmer.
Im Licht der Sonne konnte sie nicht schreiben. Die Sonne ist hell und freundlich. Sie weiß nichts vom Mond, der über den Abgründen der menschlichen Seele wacht, sein zitterndes Licht über die schweigende Natur wirft, sie drängt zu halbem Erwachen. Schatten in Gedanken verwandelt, Bäume und Felsen in lebendige Wesen.
Fremd ist ihr die Dunkelheit der verlorenen Seelen. Die Düsternis der Hölle in uns.
Im Mond ist der Teufel zum Unheil bereit. Und so, wie Diana die Königin der Nacht war und den erwachenden Mond vor sich hertrug und sich heimlich mit ihrem Geliebten, Endymion, vermählte und ihren verpönten Lüsten frönte, hatte sie sich mit Seth vermählt.
Ja, ein gefährliches Schweigen liegt in der Stunde, in der der Vollmond erwacht. Unschuldig senkt er seine Gefährten der Nacht über die schlafende Erde.
Irgendwo hatte sie gelesen, dass das Land und seine Geschöpfe eine besondere Beziehung zum Mond hätten.
Nach Jahrhunderten altem Glauben solle der Bauer seine Saat nach einem Mondkalender ausbringen.Auch heute noch richteten sich viele Fischer und Jäger nach den Mondzyklen.
Und doch ist der Mond, wissenschaftlich betrachtet, nur eine leblose Gesteinskugel. Aber wenn er das Wasser der Ozeane in Bewegung bringen kann, warum dann nicht auch ihr Blut. Austern öffnen und schließen ihre Schalen nach seinem Rhythmus. Andere Meerestiere, Nautilusse zum Beispiel, eine Tintenfischart, fügen ihrer spiraligen Farbe jeden Monat eine neue Kammer an. Warum also sollte sich nicht die Welt verändern in jeder Vollmondnacht?
“Das hättest du nicht tun dürfen.“
Auf dem Bildschirm erschien Ricardos Gesicht, lächelte verzerrt. „Du hast mich betrogen.“Lautes Gelächter erfüllte den Raum.
 
„Verschwinde!“ Entsetzt starrte Crysella auf den Bildschirm. Ricardos Gesichtszüge lösten sich auf langsam auf. Nebelhaft tanzten gespenstische Schatten darüber, verloren sich dann in Schwärze.

Hastig schloss sie die Datei.
Auch Seth war verschwunden.

Erschöpft warf sie sich auf ihr Bett, schaute in den Himmel.
Wie ein Lampion am unsichtbaren Stock hing da der Mond, schien zu lächeln. Zu lächeln. In seiner erstarrten Kälte. 
Und nun geschah es. 

 

 Index

 

 

 

 


Datenschutzerklärung
powered by Beepworld