Hier wohnte die kleine Rosi mit ihren Geschwistern  

 Ist möglicherweise ein Bild von 2 Personen und außenSo sieht das Haus jetzt aus, liebevoll restauriert und gestaltet von den neuen Beohnern. Herzlichen Dank dafür.  

 

 Rosi und das Haus Brühl 18

Roman

 

Wappen der Stadt Buttstädt       


 

Dieses lieblich romantische Fleckchen Erde ist die Vorlage zu "Rosi und das Haus Brühl 18" und spielt in den Jahren 1943 bis 1958.

 

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Die Stadt Buttstädt liegt im östlichen Thüringer Becken, zwischen Ettersberg und Finne an der Landesgrenze zu Sachsen-Anhalt. Im Mittelalter war Buttstädt berühmt wegen seiner zahlreichen Viehmärkte. Auch heute noch ziehen die Wochenmärkte an jedem Mittwoch, die Taubenmärkte im Februar und der am 1. Juliwochenende veranstaltete „Thüringer Pferdemarkt“ mit volksfestlichem Charakter zahlreiche Besucher, Händler und Markttreibende an und sind belebende Elemente der Stadt.

 

 

Zur Einstimmung in das Geschehen:

Wir schreiben das Jahr 1943

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Die Geschichte von dem Kind und dem Teufel

Die mittelalterlich anmutende Stadt schien verlassen. Durch die Gassen mit den eng aneinandergeschmiegten Häusern, die aussahen, als müssten sie sich gegenseitig schützen, pfiff der Wind. Endlich hatte es aufgehört zu schneien.
Rosi fror in ihrem dünnen Mäntelchen, zitterte, schlug die Arme umeinander, stampfte mit den Füßen in den schon wieder viel zu kleinen Schnürschuhen.
Sie sehnte sich an den warmen Ofen. Bestimmt würden die anderen schon in der Stube am Tisch sitzen und auf sie warten. Doch ihr Verlangen war stärker. Schnell verließ sie die engen, windigen Gassen und gelangte endlich auf den Marktplatz mit den großen schönen Häusern und der alten Kirche mit dem schiefen Turm. Sie musste unbedingt noch mal zu dem Brunnen mit dem Teufel und dem Kind auf der Waage. Wie fast jeden Tag. Egal ob die Sonne schien, es regnete oder schneite.
Ein Kind wiegt schwerer als der Teufel.

*

Zu Buttstädt auf dem Brühl wohnte vor alter Zeit ein Ehepaar. Das war schon lange verheiratet. Aber die Ehe war kinderlos geblieben. Und sie wünschten sich doch so sehr ein Kind. Da erschien ihnen eines Tages der Teufel und bot an, ihnen zu helfen. In ihrer Not ließen sie sich verblenden. Der Teufel versprach, sie sollten ein Kind bekommen, wenn es später sein Eigen sein sollte.
Nach neun Monaten gebar die Frau dann auch einen Knaben. Doch immer, wenn das Ehepaar das unschuldige Kind lächeln sah, wurde ihnen weh ums Herz.
Der Knabe wuchs schnell heran. Doch dem Ehepaar wurde bang und bänger und es flehte zu Gott, er möge das Unglück abwenden.
Da sandte der Herr einen Engel. Der gebot dem Teufel, sich auf die eine Schale einer Waage zu setzen. Das Kind legte er in die andere und sagte, wenn er schwerer sei, so solle er's bekommen, wie versprochen.
„Abgemacht“, erwiderte der Teufel im Bewusstsein seines Sieges.
Da sank die Schale, in der der Knabe saß, tief hinab.
„Bringt mir einen Mühlstein!“, rief der Teufel.
Doch auch damit konnte er nicht herunterkommen.
Da ging er zornig von Dannen.
Zum Andenken aber hat man auf den Ratsbrunnen einen Engel mit einer Waage, in deren einer Schale der Teufel mit dem Mühlstein und in der anderen das Kind sitzt, abgebildet.

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So ähnlich erzählte Else die Geschichte und sagte zum Abschluss immer:
"Ein Kind wiegt schwerer als der Teufel."

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Die Geschichte von dem Engel mit der Flöte

Rosi stellte sich auf die Zehenspitzen und schaute in den Brunnen. Außer einer dicken Schneeschicht war nichts zu sehen.
Vom Frühjahr bis zum Herbst war der Brunnen mit Wasser gefüllt und die Leute warfen ab und zu ein paar Münzen hinein, die dann wunderschön in der Sonne leuchteten und glitzerten.
Rosi winkte dem blasenden Engel auf der Kirchturmspitze zu.

Der Engel dient als Wetterfahne auf dem Turme der Michaeliskirche. Er ist das Wahrzeichen von Buttstädt. Der Engel hält eine Flöte in seinen Händen. In den Hussitenkriegen nämlich, als die Feinde nahten, hatte plötzlich ein Engel auf einer Flöte eine traurige Melodie gespielt und somit auf die nahende Gefahr aufmerksam gemacht. Zum Dank hatte die Stadt ihn vor langer Zeit als Wahrzeichen genommen.

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Die Geschichte von Ochsenbuttscht und dem Pferdemarkt

So schnell es die dicke Schneedecke zuließ, lief Rosi weiter. Bald stand sie frierend vor dem dreistöckigen Gebäude im roten Backsteinbau.
Nächstes Jahr sollte sie eingeschult werden, genau gegenüber vom Rossplatz.
Da war in alter Zeit, also im Mittelalter, der Ochsenmarkt und die Händler aus aller Herren Länder verkauften hier ihr Vieh. Besonders das Ochsenvieh. Deshalb nannte man Buttstädt ja auch scherzhaft Ochsenbuttscht. Zigeuner und Händler aus Polen und Ungarn trieben ihre riesigen Viehherden hierher, um sie zu verkaufen. Sie waren damals eine wichtige Einnahmequelle für die Stadt. Später, als die Menschen nicht mehr so viel Schlachtvieh wollten, wurde aus dem Ochsenmarkt ein Pferdemarkt und so eine Art Volksfest mit allem, was dazu gehörte. Stände mit Ost und Gemüse, Eiern von den Bauernhöfen, Butter und Käse, verschiedene Öle, Sauerkraut, eingelegte Gurken, süße Kuchen und bunte Plätzchen, Lakritze und anderes Süßzeugs gab es dort. Alles selbtgemacht.
Später gesellten sich die Handwerkerstände hinzu. Die Händler boten Spielzeug an, Puppen, Puppenhäuser, Schaukelpferde, Steckenpferde, Kreisel mit Peitschen, Springseile, Guckgläser und Bauernhöfe. Auch geflochtene Weidenkörbe. Jedes Jahr gab es etwas Neues zu entdecken. Bald kamen auch die Spaßmacher, die Harlekine, und unterhielten das Publikum mit frechen Versen und Liedern. Zigeuner in ihren bunten Kleidern tanzten ihre Zigeunertänze und spielten dazu traurige oder lustige Melodien auf ihren Geigen. Das Volk stand im Kreis um sie herum und klatschte. Ein lustiges Treiben soll das gewesen, sodass sogar der große Dichter Johann Wolfgang von Goethe aus Weimar angelockt worden sei.
Jetzt lag der Rossplatz verlassen unter der dicken Schneedecke.

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Die Geschichte von dem Haus Brühl 18

Mühsam stapfte Rosi zurück. Stand endlich in ihrer Straße vor dem Haus ihrer Eltern. Brühl 18.
In dem Haus hatten schon die Eltern ihrer Mutter gewohnt. Davor die Eltern ihres Großvaters. Und davor die Eltern ihres Urgroßvaters. Und davor wieder die Eltern und wieder die Eltern.

Das Haus war eines der ältesten im Ort. Und natürlich auch die Straße. Bestimmt schon so achthundert Jahre alt.
Das Haus gegenüber war ein echtes Gruselhaus. Es war auch aus Lehm gebaut und zweistöckig, wie alle Häuser in der Straße, und hatte oben und unten drei kleine Fenster.
Nie hatte jemand je eine Menschenseele durch die Tür treten sehen. Denn in dem Haus hatte das Ehepaar gelebt, das dem Teufel ihr Kind versprochen hatte. Seitdem getraute sich keiner, dieses Haus zu bewohnen.

Von dem Kopfsteinpflaster der nicht sehr langen, etwas hügeligen, Straße war jetzt nichts zu spüren. Der Schnee hatte auch hier eine dicke weiche Decke darüber gelegt. Einen weichen flauschigen Teppich.
Vom Frühjahr bis zum Herbst, manchmal sogar im Winter, lugten zwischen den ungleichmäßigen, huckeligen Steinen dünne Grashalme hervor, die die Kinder jedoch auf Elses Geheiß immer wieder ausrupfen mussten.
In diesem Winter würde wohl kein Hälmchen zu erblicken sein. Dieser Winter war zu hart. Ein Wunder, dass das mit grauen Schiefern gedeckte Dach die dicke Schneedecke aushielt.
Die grauen Schiefern schmückten auch den oberen Stock des kleinen Hauses. So sah das Haus aus wie ein Märchenhaus. Ein Hexenmärchenhaus.

Wenn die Schiefer aus Lebkuchen wären, verziert mit den leckersten Süßigkeiten, Zuckerplätzchen, Marzipan, Schokolade und Liebesperlen zum Beispiel, würde Rosi jetzt daran knappern. Und wenn die böse Hexe dann sagen würde:
„Knusper, knusper knäuschen, wer knuspert an mein Häuschen?“, würde sie natürlich erwidern wie im Märchen: „Der Wind, der Wind, das himmlische Kind.“ Die Hexe würde dann zur Tür heraustreten, um nachzuschauen, ob es stimmt. Und diese Gelegenheit würde sie nutzen und die Hexe ganz schnell in das Haus zurückstoßen und hinein in den Ofen, aus dem die Flammen schon züngelten, und dann ganz schnell die Ofentür verriegeln, das Haus verlassen und zusehen, wie die böse Hexe als Rauch durch den Schornstein
fliegt, hinein in den trüben Winterhimmel. Weg wäre sie. Für immer und ewig. Die böse Hexe. Und der Hänsel brauchte keine Angst mehr zu haben.

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Die Geschichte von den Ohrenschützern und dem Krieg

Rosi drückte die schwere Klinke nieder. Die Türglocke schellte laut.
„Da bist du ja endlich!" Else eilte von dem Wohnzimmer in den eiskalten Flur. „Schnell zieh die Schuhe aus Kind! Du bist ja ganz erfroren! Was treibst du dich auch bei dem Wetter draußen rum?" Else zog das Mädchen ins Wohnzimmer. „Wir müssen morgen die Ohrenschützer bei Hüttenrauch abliefern“, sagte sie ungehalten. „Wir brauchen dich hier. Das weißt du doch.“
„Ja, ich weiß“, erwiderte Rosi schuldbewusst, „aber ich wollte doch noch mal zu meiner Schule.
„Ach du immer mit deinen dummen Sachen.“ In Elses Stimme grollte der Ärger. „Ich weiß nicht, wo mir der Kopf steht, wie ich euch durchbringen soll. Und du gehst ständig auf Wanderschaft. Oder träumst vor dich hin. Wach endlich auf. Es ist Krieg. Und dein Vater ist an der Front. Vergiss das nicht. Die Soldaten brauchen unsere Hilfe."
„Ja Mama."

Zerknirscht setzte sich Rosi an den Tisch, an dem ihre kleineren Geschwister, Jutta und Heinzi, Else bei der Arbeit halfen.
Jutta schnitt, die Zungenspitze zwischen ihren leicht geöffneten Lippen, ganz versunken in ihre Tätigkeit, die aufgezeichneten Teile der Ohrenschützer aus.
Heinzi stapelte sie geschickt übereinander. Else nähte sie zusammen.
Die Ohrenschützer mussten fertig werden für die Soldaten, die schrecklich froren in dem eiskalten Winter vor Moskaus Toren. Auch Mützen, Schals und Pullover mussten für sie gestrickt werden. Vielleicht brauchte ja auch ihr Vater etwas Warmes zum Anziehen. Und besonders brauchten die Soldaten die flauschigen Ohrenschützer. Wie oft schon hatten die Kinder von erfrorenen Ohren, Nasen, Händen und Füßen gehört.

Else hatte die blaue Lampe mit den gelben Blumen, an dem im Sommer immer die Fliegenkäcker klebten, von der niedrigen Decke gezogen. Ihr funzeliges Licht fiel anheimelnd auf das blanke Holz des ovalen Tisches, auf dem die Teile für die Ohrenschützer lagen zwischen Leim, Nadeln, Zwirn und Scheren.
Im runden Rohr des winzigen eisernen Kanonenofens rumorte, vermischt mit dem Winterwind, die laue Wärme eines Feuers, das nicht die Kraft besaß, die Eisblumen an den zwei Fenstern abzutauen.

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Die Geschichte von Rosis Geburt auf dem Plumpsklo

„Bitte Mama, erzähl noch mal von meiner Geburt", bettelte Rosi, „dann kann ich flinker arbeiten."
„Das kannst du doch bald singen.“ Else lachte versöhnt.
Die drei Kinder rückten mit ihren Holzstühlen näher an Else heran, begierig, noch einmal, nur dieses eine, allerletzte, einzige Mal, dieser wundersamen Geschichte von Rosis wundersamer Geburt zu lauschen.
„Das war so", begann Else leise, „eigentlich war es noch nicht so weit. Wir hatten noch vier Wochen Zeit. Also, ich bekam plötzlich heftige Leibschmerzen.
‚Vielleicht kommt das von dem warmen Zwetschgenkuchen?‘‚ dachte ich, ‚den ich vorhin gegessen hatte‘.
Ich hatte so ein Stück, oder vielleicht waren es auch zwei, von dem frischen Zwetschgenkuchen gegessen. Nein, hinuntergeschlungen hatte ich ihn. So einen Heißhunger hatte ich.
Doch die Leibschmerzen ließen nicht nach. Sie wurden eher noch unerträglicher. So schlich ich mühsam auf den Hof.
Die Sonne schien, es war warm, und es war Mittagszeit. Endlich hatte ich es bis zum Plumpsklo geschafft. Mit Mühe hob ich den Holzdeckel und setzte mich drauf. Ich drückte und drückte und merkte plötzlich mit Schrecken, dass du im Begriff warst, diese Welt zu betreten.“
Else machte eine kleine Pause und holte tief Luft bei dem Gedanken an das seltsame Geschehen. Dabei sah sie Rosi direkt in die Augen.
„Du bist ja mein erstes Kind“, fuhr sie fort. „Und ich war noch dumm, ich wusste ja nicht, was Wehen sind. Doch ich fühlte dich kommen. Und das auf dem Plumpsklo. Mein Gott!
‘Karl, Karl!, rief ich nach eurem Vater, „ schnell! Lauf, hol' die Hebamme! Das Kind kommt!'
Karl rannte, die Hebamme zu holen. Doch als sie kam, hatte sie nicht mehr allzuviel zu tun. Du warst schon da und hingst an meiner Nabelschnur. Mit dem Kopf fast in der, na, so etwas sagt man nicht“, Else lachte schelmisch, „ihr wisst schon.“
Die Kinder wussten. Das war eine schöne Geschichte.

*

Nach einiger Zeit stand Else auf, um die Tür, die das Wohnzimmer von der schmalen Küche trennte, etwas zu öffnen.
Sofort zog eine dumpfe koksige Wärme, die die weiße Grude verströmte, in die Stube.
„Und als ich kam, hast du gesagt: ’Kind fahr wieder in die Heimat'.“, piepste Jutta.
„Ja, weil du so klein und dünn warst."
Else setzte sich wieder an den Tisch und streichelte über Juttas blondes Köpfchen.
„Und ich auch?", meldete sich Heinzi zu Wort.
„Du nicht." Else lachte. „Du warst ein strammes Wonnebaby. Und heiß erwartet. Eigentlich sollte ja Rosi schon ein Junge werden."
„Als ich geboren wurde, war noch kein Krieg, stimmt's Mami?"
„Stimmt. Erst ein Jahr später. Am ersten September Neunzehnhundertneununddreißig. Da eroberte die Deutsche Wehrmacht Polen."
„Und wir siegen."
„Wie kommst du denn darauf Kind?" Else schaute Rosi verwundert an und schüttelte ihre dunklen Locken.
„Das hat doch Papa gesagt, als wir ihn am Bahnhof verabschiedet haben. Weißt du das nicht mehr? 'Mit Gott und Vaterland!' hat er gerufen, und 'Wir werden siegen! Bald bin ich wieder bei euch‘."
„Das ist lange her.“ Else schaute sinnend auf ihre Hände. „Nur Gott weiß, wie der Krieg ausgeht“, sagte sie leise.
Würde sie Richards Worten trauen, würde er zu ihnen zurückkehren wie ein Bumerang und das ganze Land in Schutt und Asche legen.
Von Karl, ihrem Mann, hatte sie lange nichts gehört. Sie betete jeden Tag zu Gott, ihn gesund wieder nach Hause kommen und nicht in der russischen Kälte sterben zu lassen.

„Und nun müssen wir uns beeilen", forderte Else die Kinder auf, weiterzuarbeiten.

 

 

***

Anhang

Quelle

Stadt Buttstädt: Goethe in Buttstädt

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Auch 1799 besuchte er den Allerheiligenmarkt am 31.10.: „Auf den Buttstädter Pferdemarkt, abends nach Weimar zurück“; „Heut will ich nach Buttstädt fahren, wo Pferdemarkt ist“,

teilt er Schiller in einem Brief vom selben Tage mit. Auch sein Sohn August teilte später dieses Vergnügen. Am 10.02.1820 vermerkt Goethe in seinem Tagebuch: „August war nach Buttstädt geritten.., erzählte von seinem Pferdehandel.“

Zuweilen war der ganze Weimarische Hof in Bewegung, wenn in Buttstädt der Pferdemarkt stattfand. Als Goethe einmal nach Großkochberg reiten wollte, war kein Pferd aufzutreiben. „Alles war auf dem Buttstädter Jahrmarkt“, mußte er bedauernd feststellen. Vulpius schreibt, dass der Dichter überall, wo er hinkam, sinnfällige Außerungen des Volkstums mit Freude beobachtet hat. Das Markttreiben in Buttstädt wird er aus dieser Perspektive interessiert wahrgenommen haben. Vulpius bemerkte dazu, „zum Roßmarkt in Buttstädt ritt er wohl auch nur wegen des Volksvergnügens, das damit verbunden war.“

 

 Leseprobe aus dem Manuskript:

 
1. Kapitel

Dieser Frühling war ein ganz besonderer Frühling.
Fast immer schien die Sonne und die Butterblumen, Margeriten, Sumpfdotterblumen und Veilchen leuchteten aus dem üppigen Grün der Wiesen. Fetter Huflattich zu beiden Seiten des Alten Baches gedieh prächtig. Hummeln und Bienen summten.
Rosi trällerte ein Lied, das jetzt in aller Munde war.
„Maikäfer fliege/ Der Vater ist im Kriege/ Die Mutter ist im Pommerland/Pommerland ist abgebrannt/ Maikäfer fliege/ Der Vater ist im Kriege.“
Fröhlich verließ sie den schmalen, ausgetretenen Pfad, der sich entlang des Alten Teiches schlängelte, und stand schon bald auf der Straße, die nach Mannstedt, einem winzigen Dörfchen, einen Kilometer von Buttstädt entfernt, führte.
Diese Straße hatte es ihr angetan. Sie hatte etwas geheimnisvoll Unergründliches. Etwas, was sie nicht in Worte zu fassen vermochte. Sie musste einfach auf ihr entlangspazieren, weiter, immer weiter.
Zu beiden Seiten der Straße wiegten sich alte Obstbäume -Pflaumen, Äpfel, Kirschen - im Wind und blühten und dufteten verführerisch.
„Die Himmelskönigin lässt die goldenen Sonnenstrahlen in den Blüten glitzern!“, rief sie und streckte ihre Arme ganz weit aus, dem Himmel entgegen, „und der König der Winde bewegt sie ganz sacht, sodass sie zur Erde niederfallen können.“
Die Welt schien ihr verzaubert. Vom Frühling verzaubert.
Wie in Trance lief sie weiter. Bis zum Bahndamm. Hier schmiegte sie ihren Kopf mit den langen rotblonden Locken auf die Schienen, presste ein Ohr fest darauf und wartete. Bestimmt würde der Zug bald kommen, die Lokomotive schnaufen, Funken sprühen, drohend um die Kurve keuchen, sie aber dann flink zur Seite rollen und mit Gebrüll den Abhang hinunterkullern.
Doch diesmal war kein Zug zu hören. Ihren Mut würde sie wohl ein andermal beweisen müssen. Verträumt trat sie den Heimweg an. Es war schon dämmerig geworden.

Sie dachte an den Sommer.
Wenn die Früchte reif waren, durften die Kinder sie nicht pflücken, nicht einmal auflesen. Dafür gab es die Öbster und die Obstbuden.
Alle paar Meter stand so eine Bude zwischen den Bäumen, bewacht von strengen Öbstern. Die Buden waren aus rohem Holz grob gezimmert, hatten eine Tür, durch die kaum ein Erwachsener passte und ein winziges Fensterchen, besser ein Guckloch. Daraus konnten die Öbster bei schlechtem Wetter mit einem Fernglas in der Hand schauen und die Umgebung beobachten. Bei schönem Wetter saßen sie vor der Bude auf einem Schemel oder versteckten sich im Gras.
Natürlich waren sie bei den Kindern nicht besonders beliebt.

Allein, manchmal auch mit Jutta und Heinzi, lag sie oft stundenlang mucksmäuschenstill im hohen Gras im Graben, der die Straße von den weiten Feldern trennte, und wartete darauf, dass der Öbster mal Pipi machen musste und sich zu diesem Zweck ein paar Meter von seiner Bude entfernte. Schnell huschte sie dann aus ihrem Versteck und mauste einen vollen Korb frisch geernteten Obstes.
Dazu gehörte Mut. Und Ausdauer. Denn, wehe, wenn ein Kind erwischt wurde! Dem erging es schlecht. Die Öbster fackelten nicht lange. Die gaben dem Dieb dann eins mit der Gerte.
Ein Glück, dass sie nie erwischt wurden.
Sie waren ja auch schlau wie die Füchse. Kannten jeden Weg und jeden Steg, die Namen der Blumen, der Vögel, der Pflanzen und Tiere in ihrer nahen Umgebung; die kleinen sumpfigen Bäche mit ihren Blutegeln und den quakenden Fröschen, und viele Kinder, mit denen sie spielten.

Lustig hüpfte Rosi abwechselnd von einem Bein auf das andere quer über die Landstraße. Doch plötzlich überkam sie ein seltsames Gefühl, das sie sich nicht erklären konnte. Eben war doch noch alles so friedlich gewesen. Sie lief schneller. Musste nach Hause.
‚Es passiert was‘, dachte sie, ‚es passiert was‘.

*

Neben Brühl 18 stand Herr Schmids vor seinem Haus in der niedrigen Tür. Herr Schmids war bei der Polizei und bespitzelte die Leute.
Vor dem mussten sie auf der Hut sein. Jedenfalls war das Richards Meinung.

„Heil Hitler!" Herr Schmids streckte seinen rechten Arm ganz gerade von sich.
„Heil Hitler“, grüßte Rosi artig.
Sie war etwas atemlos. Schließlich war sie das letzte Stück durch die Wiesen, dann den Alten Bach entlang über die Hauptstraße am Ende des Brühls gerannt.
„Warte mal." Herr Schmids hielt sie am Arm fest. „Ihr habt Besuch“, sagte er mit einem seltsamen Unterton in der Stimme. „Weißt du, wer da ist?"
Sie schüttelte den Kopf und sah Herrn Schmids aus großen Augen an. Woher sollte sie wissen, wer da ist? Sie war doch gar nicht da.
„Rate mal." Herr Schmids lachte. „Kannst du es dir denken?"
Rosis Herz klopfte plötzlich bis zum Halse.
„Papa?", flüsterte sie, schlüpfte unter dem noch immer ausgestreckten Arm des Herrn Schmids hindurch und öffnete erwartungsvoll die Haustür.
Deshalb also diese Unruhe. Karl war auf Urlaub gekommen. Endlich. Die Großeltern konnten es nicht sein. Die meldeten sich vorher immer an.
Jedes Jahr im Mai schrieb Else Berta einen Brief.

Liebe Mama komm doch wieder, im Hof blüht schon der weiße Flieder.

Else meinte den Fliederbusch hinter dem Mist, der den Garten zu Schmids Garten trennte.
Jetzt war Mai. Der Flieder blühte. Aber Berta und Otto kamen in diesem Jahr nicht. Sie hatten Trauer.
Ihr Sohn Walter, Elses Bruder, war mit seinem Flugzug abgestürzt. Von ihm fehlte jede Spur. So galt er als vermisst. Und das war immer noch besser als tot, denn somit war noch Hoffnung.

Vom Hof drangen Stimmen. Die Männerstimme war nicht Richards Stimme. Schnell lief Rosi durch den mit alten Fliesen geschmückten Flur, direkt in Karls offene Arme.
„Da bist du ja endlich, du kleine Herumtreiberin." Karl stellte das Kind auf die Füße. „Groß bist du geworden“, wunderte er sich, „und so hübsch. Wie eine Prinzessin."
Else lächelte. Sie hatte einen seltsamen Ausdruck in ihrem sonst so ernsten Gesicht. Einen Ausdruck, den Rosi nur selten an ihr gesehen hatte. Sie schien ihr auch schöner geworden zu sein. Bestimmt machte das Karls Besuch.
„In einem Jahr kann sich ein Kind sehr verändern Karl“, sagte Else, „komm Rosi, setz dich zu uns."

Gehorsam setzte sich Rosi auf die Bank, auf der Jutta und Heinzi vor einem großen rechteckigen Holztisch auf dem einzigen grünen Fleckchen im Hof vor der Mauer zu Schmids Garten saßen und jetzt etwas zusammenrückten.
„Wir spielen Mensch ärgere dich nicht“, sagte Jutta stolz.
„Jutta hat gesagt", empörte sich Heinzi, „ich habe keine sechs gewürfelt."
„Hat er auch nicht. Der ist doch dumm." Jutta streckte die Zunge raus. „Der sagt immer, er hat eine sechs gewürfelt, ganz egal, wie viele Punkte auf dem Würfel sind."
„Hab' ich auch! Hab' ich auch!", schrie Heinzi und stieß wütend das Spiel vom Tisch. „So", heulte er los. „Alles deine Schuld. Nun kannst du die Männchen wieder einsammeln. Ätsch!"
„Mach doch selbst." Jutta verschränkte bockig ihre Arme, „in dem Gras finde ich die doch nicht."
„Mama! Mama!", heulte Heinzi, „Jutta findet die Männchen nicht."
„Nun aber Schluss!" Else zog die Kinder von der Bank. „Ihr sammelt jetzt beide auf der Stelle die Männchen wieder auf. Und wehe, es fehlt eines." Energisch stieß sie die Kinder ins Gras.
„Die streiten sich immer, Papa", sagte Rosi, nachdem Karl sich neben sie auf die Bank gesetzt hatte. „So was Dummes."
„Und du? Streitest du dich nicht?"
„Nein, nicht mit Jüngeren. Ich bin doch schon groß."

Rosi war stolz auf ihren Vater. Er gefiel ihr ganz außerordentlich, wie er da neben ihr saß. In seiner gut sitzenden Uniform. Mit dem schmalen Gesicht. Den hellen glänzenden Augen, die tief in den Höhlen lagen. Der geraden Nase, den geschwungenen Lippen und dem glatten, vollen, zurückgekämmten Haar.
Genauso sehen die Männer in den Filmen aus. Neulich vor dem Kino hatte sie so einen auf einem Plakat gesehen. Heesters hieß der wohl.

Karl verbreitete eine geheimnisvolle Aura um sich. So fühlte sie ich mehr und mehr in seinen Bann gezogen. Sie konnte natürlich nicht ahnen, dass ihr großer Held sie später in die aufregendsten Abenteuer verstricken sollte.
„Ich habe dich so vermisst", sagte sie und schmiegte sich an den rauen Stoff der Uniform. „Hast du einen Feind gesehen?"
„Einen Feind?" Karl war verblüfft. Was für seltsame Fragen stellte seine Tochter da. „Einen Feind?“, wiederholte er, ehe er zögerlich weitersprach: „Viele Feinde habe ich gesehen. Viele. Ein ganzes Heer voller Feinde." Nachdenklich sah er in Rosis kleines Gesicht, in dem die Wangen glühten, die Augen glänzten. „Was man so unter Feinden versteht", fügte er nach einer Weile leise hinzu.

Jutta und Heinzi hatten sich wieder beruhigt, die Männchen aufgelesen und sie in das dafür vorgesehene Fach in dem Spiel gelegt.

„So, Kinder. Es ist Zeit zum Abendessen", sagte Else an der Tür zum Flur, „kommt jetzt. Und du, Rosi, hilf mir bitte, den Tisch zu decken."

Karl setzte sich mit den Kleinen an den Tisch unter die blaue Blumenlampe, während Else und Rosi aus der nussbraunen Vitrine an der Wand gleich rechts neben der Tür das Geschirr nahmen und den Tisch deckten.
„Ich hole noch ein paar Blümchen für Papa", sagte Rosi, „Zur Feier des Tages."
Sie ging in den Hof, pflückte ein Sträußchen Gänseblümchen von dem Wiesenfleckchen, stellte sie in eine kleine Vase hinter Karls Teller.
„Danke, kleine Prinzessin", lächelte Karl. „Du verwöhnt mich aber."

Else holte das Essen aus der Grude. Pellkartoffeln. Die dampften noch. Die Rapunzel waren in einer Schüssel im Flur. Da war es immer schön kühl. Auch wenn es draußen ganz heiß war.
Else nahm den Teller von der Schüssel, legte einen Löffel hinein, setzte sich an den Tisch auf ihren Platz an der Stirnseite Karl gegenüber, schloss die Augen, faltete die Hände.
Die Kinder und Karl taten es ihr nach.
„Wir danken dir, Herr", betete Else leise. „Wir danken dir, Herr, dass du meinen Mann, den Vater meiner Kinder, auf Urlaub geschickt hast. Dass er gesund ist. Bitte, lass den Krieg bald zuende gehen, damit nicht noch mehr Menschen sterben müssen. Bitte, Herr, sei gnädig." Nach einer kurzen Pause sagte sie: „Amen."
„Amen", murmelten die anderen.
„Mama, du hast vergessen, für das Essen zu danken", sagte Jutta.
„Stimmt. Dann mach du es."
Alle falteten noch einmal die Hände und schlossen die Augen.
„Lieber Gott, wir danken dir für die gute Speise. Und natürlich auch für Papa", betete Jutta und sagte dann fröhlich: „Und nun guten Appetit."
„Amen."
„Es ist aber falsch", schmollte Heinzi.
„Was ist falsch?" Else küsste Heinzi auf seinen Schmollmund.
„Das Gebet. Es ist falsch. Es muss heißen: 'Komm Jesus, sei unser Gast und segne, was du uns bescheret hast'. So."
Alle lachten.
„Du hast Recht", sagte Else. So hast du es gelernt. Aber man kann auch etwas anderes beten, etwas, was uns gerade einfällt."
„Und doch ist es falsch!", beharrte Heinzi.
„Reichst du mir mal bitte das Salz?" Karl sah Else verliebt an, er hielt den Salzstreuer, den Else ihm reichte, in der Luft und vergaß, das Salz auf die von Else gepellten Kartoffeln zu streuen.
Auch Else hatte noch nichts gegessen.
Plötzlich stand Karl auf, küsste Else und sagte: „Komm. Ich kann nicht mehr warten." Er zog Else vom Stuhl und legte einen Arm um sie.
„Aber die Kinder. Karl…"
Karl drohte den Kindern lachend mit dem Finger. „Ihr bleibt unten", bestimmte er. „Und rührt euch nicht vom Fleck. Wir kommen gleich wieder."

Kaum waren die Eltern verschwunden, standen die Kinder auf, schlichen zum Flur, hockten sich vor die Holztreppe, die zu den oberen Räumen führte, auf den kalten Steinfußboden.
„Pst", flüsterte Rosi und legte einen Finger auf ihren Mund. „Die sind im Schlafzimmer."
„Und warum ohne uns?"
„Dummchen." Rosi schaute Jutta mitleidig an“, die machen bestimmt ein Baby."
„Aber wir haben doch schon Heinzi."
„Der ist doch kein Baby mehr."
„Oh, ja. Ein Baby!" Heinzi klatschte in seine kleinen dicken Hände. „Ich will ein Baby."
„Frau Müller hat gesagt, der Führer braucht Kanonenfutter. Und Herr Schmids hat gesagt, wenn man vier Kinder hat, bekommt die Frau das Mutterkreuz vom Führer", flüsterte Rosi.
„Oma hat schon so ein Kreuz, weil sie dem Führer neun Kinder geschenkt hat. Und zwar in echtem Gold. Papas Mama hat nur drei Kinder und kein Kreuz."
„Nicht so laut, Jutta." Rosi legte einen Finger auf Juttas Mund. „Vielleicht bekommt sie ja noch mehr", flüsterte sie.

In diesem Moment kamen Elsa und Karl eng umschlungen die Treppe hinab.
„Habt ihr ein Baby gemacht?" Jutta fasste nach Elses Hand.
„Vielleicht!", lachte Else, „aber nun ab mit euch. Ins Bett. Aber vorher waschen. Und immer schön der Reihe nach. Erst Heinzi. Rosi du hilfst ihm dabei."
„Bekommst du dann auch das Mutterkreuz vom Führer?"
„Aber Jutta. Wer denkt denn an sowas?" Else schüttelte ihren Kopf mit den langen dunklen aufgelösten Haaren. „Nun aber ab. Immer diese Fragen."

Die Kinder zogen ihre Nachtwäsche an, wuschen sich im Flur im kleinen Becken mit dem eiskalten Wasser flüchtig Gesicht und Hände, wünschten Else und Karl eine gute Nacht und stiegen die Treppe mit dem weißen Geländer hinauf.

Das Schlafgemach neben dem Elternschlafzimmer war eine schmale Kammer. Nur zwei Betten hatten darin Platz.
Das Bett rechts an der Wand teilten sich Jutta und Heinzi. Das an der linken Wand gehörte Rosi. Über dem Bett hing ein Bild, auf dem sich zwei Pferdeköpfe einander zuneigten. Die Pferdeköpfe hatten lange glänzende Mähnen und große, traurige, braune Augen.
Bestimmt, weil sie nur noch Köpfe haben.
Sie schaute zu dem Bild an der Wand gegenüber. Das war viel lustiger. Darauf war ein kleiner Junge zu sehen, der über eine Brücke ging, die lose über einem Bach schwebte. Der Junge hatte keine Angst, denn über ihm wachte ein pausbäckiger Engel mit sehr großen ausgebreiteten Flügeln und beschützte den Jungen. Außerdem war das Bild bunt. Das über ihrem Bett nur braun.

Die Kinder knieten vor dem Bett mit dem Engel nieder, falteten die Hände und beteten: „Lieber Gott/Mach mich fromm/Das ich in den Himmel komm/.Amen."
„Und nun ins Bett mit uns." Rosi gab den Kleinen einen Klaps und deckte sie fürsorglich zu. „Schlaft schön, ihr beiden."
Jutta und Heinzi schmiegten sich aneinander und waren bald eingeschlafen.

Rosi lag noch eine Weile wach. Sie konnte wieder nicht einschlafen auf dem harten Strohsack, der über den Brettern des dunklen Holzbettes lag. Außerdem kratzte das schreckliche blauweißkarierte Bettzeug immer ihre Haut. Wie oft schon hatte sie Else gebeten, ihr anderes Bettzeug zu geben. Sie hasste es. Aber Else hatte kein Erbarmen.
„Sei nicht so zimperlich", sagte sie immer, „ich habe kein anderes Bettzeug. Die anderen sagen doch auch nichts. Aber du benimmst dich schlimmer als die Prinzessin auf der Erbse. Ich kann dir nun mal kein Bettzeug aus Linnen und Seide bieten. Gib endlich Ruh‘."

Unruhig setzte sich Rosi im Bett auf. Was konnte sie denn dafür, dass das verdammte Bettzeug nun mal so kratzte?
Kurzentschlossen knöpfte sie die weißen flachen Knöpfe auf und zog den Bezug ab. Den vom Kopfkissen natürlich auch.

*

Am nächsten Tag kam Herr Schmids mit zwei Parteigenossen. „Heil Hitler!", riefen sie wie aus einem Mund, kaum dass sie durch die niedrige Tür getreten waren.
„Heil Hitler", grüßte auch Karl, streckte aber im Gegensatz zu den anderen unlustig seinen Arm aus. „Was gibt's?", fragte er im barschen Ton. "Womit kann ich euch eine Freude bereiten?" Er lachte hämisch.
„Karl", sagte Herr Schmids, „du weißt, worum es geht. Stell dich nicht so an. Jeder muss bezahlen. Womit soll sich die Partei sonst finanzieren?"

Rosi stand mit offenem Mund an der Tür.
Das schien ja interessant zu werden. Neugierig pitzte sie die Ohren.
Jutta zog Heinzi schnell auf die Couch neben der alten Uhr an der Wand.
Es roch verdächtig nach dicker Luft.
Rosi hielt fast den Atem an, am liebsten würde sie sich unsichtbar machen, denn bei solchen oder ähnlichen Situationen schickte Karl die Kinder immer auf den Hof.
„Geht raus, marsch, vor die Tür mit euch, das ist nichts für Kinner!", herrschte er da auch schon die Kinder an, „spielt auf dem Hof! Und untersteht euch, an der Tür zu lauschen!"
Die Kinder rührten sich nicht vom Fleck, wie auf Kommando schauten alle drei auf den braunen Dielenfußboden, als läge da ein Schatz, den sie vorher nicht gesehen hatten.
„Na, los", sagte Else, „macht, was euer Vater sagt."
„Wir verschwinden ja schon.“ Rosi winkte Jutta und Heinzi. „Na los! Auf den den Hof mit uns."

Hinter der Tür blieben die Kinder stehen. Rosi legte wieder den Finger auf den Mund und guckte neugierig durchs Schlüsselloch, während die Kleinen ihre Köpfe an die Tür drückten.
Die Parteigenossen setzten sich an den Tisch, standen wieder auf, setzten sich wieder, fuchtelten wild mit den Armen und redeten und redeten. Doch die Kinder verstanden kein Wort. Nur undeutliches Gemurmel war zu vernehmen.
„Versteht ihr was?", flüsterte Rosi. „Weg! Sie kommen!"
In diesem Moment flog die Stubentür auf. Die Genossen stürmten hindurch, verließen ohne 'Heil Hitler' das Haus.
„Verflixte Bande!", schimpfte Karl. „Ich habe euch doch gesagt, ihr sollt nicht lauschen. Los steht auf! Das habt ihr nun davon."
Die Kinder erhoben sich vom Boden, auf den sie beim abrupten Öffnen der Tür gefallen waren.
„Mein Bein tut weh", jammerte Heinzi, „Rosi, mein Bein."
Rosi streichelte das Bein, das Heinzi ihr entgegenstreckte, und sang: „Heile, heile Segen/ Morgen gibt es Regen/ Übermorgen Schnee/ Dann tut's nicht mehr weh/. Na, besser?"
„Besser." Heinzi strahlte wieder.
„So eine Bande", wütete Karl weiter und verfiel in sein schönstes Anhaltersächsisch. „Pack! Alle! Rubben einem noch das letzte Hämme vom Leiwe!"
„Dein Parteibuch brauchtest du ihnen aber nicht gleich vor die Füße zu werfen", sagte Else vorwurfsvoll, „das war nun wirklich eine übertriebene Reaktion."

Am nächsten Tag war Karl verschwunden.

***


 

 


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