UNSICHTBAR
Eine junge Frau wird in der U-Bahn brutal vergewaltigt und verliert ihre Identität. Traumatisiert irrt sie durch die Straßen der Riesenstadt. Immer auf der Suche nach ihrem Vergewaltiger. Sie wähnt sich unsichtbar, da keiner sie wahrzunehmen scheint. Sie schlüpft in die Gehirne der Menschen. Kann ihre Gedanken lesen, ihre Gefühle fühlen. Ist mittendrin im Wahnsinn der Begierden, dem Schmutz, der Lust. Dem Gestank, der über allem und jedem zu liegen scheint, und kommt zu dem Schluss, dass sie tot und in der Hölle gelandet ist.
Leseprobe aus dem Originalmanuskript:Ich bin gerade dabei, es zu überarbeiten.
Ich sitze in der S-Bahn. Allein im Abteil. Ganz hinten. Die Bahn fährt durch die Nacht. Hält. Ein Kerl steigt zu, setzt sich mir gegenüber, stiert mich an, in mein Gesicht, weiter runter, bleibt kleben in meinem Ausschnitt.
Bestimmt sieht er meine nackten Brüste unter dem dünnen weißen Top. Na, ist ja noch immer so warm. 31 und ein halbes Grad.
Ich stiere den kleinen Fernseher an. Oben, an der Decke. Nur einen Augenblick. Dann den Kerl.
Langsam knöpft der Kerl seine Hose auf, ganz langsam, den Blick in meinen Augen.
So ein Arsch. Der wird doch nicht. Vor meinen Augen?
Doch. Er wird. Seine Hand umschließt einen Schwanz. So ein Teil habe ich noch nicht gesehen. Ich stiere. Der Arsch reibt schneller. Noch schneller. Auf ab. Auf ab. Es kommt ihm. Er stöhnt. Stiert noch immer in mein Gesicht. Stöhnt lauter. Widerlich.
Die Bahn hält. Ich stehe auf. Muss raus hier. Sofort.
Der Kerl streckt ein Bein lang. Ich falle auf ihn. Sein Drecksglied zwischen meinen Brüsten.
"Bist du blöd?! Du Sacksau!" Meine Faust landet unter seinem Kinn. War wohl nicht fest genug. Der Dreckskerl lacht sein Sacksaulachen, zieht mich auf seinen Schoß, zwängt sein noch immer steifes Glied in meinen Slip.
"Ohne Gummi?"
"Ich bin sauber." Wieder das dreckige Lachen. Es macht keinen Sinn, sich zu wehren. Sehe ich sofort. Fühle das Messer in seiner Gesäßtasche.
Ich stöhne auf. Das Ding ist zu groß. Der Kerl packt meine Hüften, bestimmt den Rhythmus, drückt meinen Oberkörper nach vorn. Ich stütze mich mit den Händen an meinen verlassenen Platz. Schreie. Noch lauter. Das Schreien vermischt sich mit dem Stöhnen des Mannes. Die Bahn ruckelt ungerührt durch die Nacht. Meine Handtasche liegt auf dem Boden. Ich bücke mich tiefer. Schreie lauter. Mein Handy! Stecke es in die Jeans. Reiße es an mein Ohr. Muss die 110 anrufen. Bevor ich zerreiße.
"Nix da." Der Kerl schlägt darauf. "Eine Minute noch. Halt still." Ich schreie. Der Kerl stößt wie ein wildes Tier. Ich zerreiße. Sehe Sterne. Die Bahn zuckelt. Hält. Der Kerl stößt mich aus der Tür.
Wohin ist das Licht. Die Freundlichkeit. Das Lachen. Dunkel ist der Tag. Wie die Nacht. Kein Unterschied. Die Sterne bedrohlich. Jede Nettigkeit Heuchelei.
*
Ich irre durch die nächtlichen Straßen, schwanke wie eine Blume im Wind. Zerrissen. Zerschlissen. Beschmutzt. Blut überall. Überall Blut. Schleim. Blut und Schleim. Und Sperma. Noch immer. Wie lange schon? Besudelt. Auch von der Pisse, die ein Mann auf dem Bahnsteig um sich strudelte.
Mein erster, mein zweiter, dritter Gedanke - Polizei. Keine Traute. Die würden mir nicht glauben. Ich kenne das. Es würde heißen, ich hätte den Kerl herausgefordert. Wie sieht der überhaupt aus. Der Kerl. Erinnere mich nur an den widerlichen Tathergang. Tathergang. Genau. So würden die das nennen. Der Kerl hatte kein Gesicht. Nur Schwanz. Riesengroß. Dick. Brutal. Und Hände. Ja, Hände auch. Hände wie Schaufeln.
"Erinnere dich an das Gesicht. Erinnere dich."Die Stimme in meinem Kopf wird immer lauter.
"Erinnere dich."
An einer Häuserecke sinke ich zusammen. Kotze. Der Magen dreht sich um. Nur Galle. Gelbe Galle. Grüne. Kotze. Der Schmerz unerträglich. Im Magen. Im Unterleib. Überall. Dieser Schmerz.
"Mama!"
"Miau."
Eine Katze streicht um meine Beine. Es muss eine sein. Wer sonst miaut mitten in der Nacht. Kann sie nicht sehen, spüre nur ihr weiches Fell. Die Wärme.
"Miau."
Ich laufe weiter. Immer weiter. Die Katze auf meinem Arm schnurrt zufrieden. Eine Tür gibt nach. Im Dunkeln stolpere ich eine Treppe runter. Ist das ein Haus? Ja. Ein Haus. Eine winzige Notlampe brennt. Ein Keller ist unverschlossen. Ich stolpere über Gerümpel. Kisten. Bretter. Kauere mich zusammen. Schlafe ein. Die Katze im Arm. Warm. Weich.
"Miau."
Ein Sonnenstrahl huscht durch das winzige Fenster. Ich niese. Sonne. Gibt es die Sonne? Wo kommt die Sonne her.
Die Katze liegt neben einer Ratte. Tot. Beide tot. Ratte und Katze. Ihr Fell zerfetzt. Beides grau. Eines getigert. Blutverschmiert. Beide. Panisch renne ich aus dem Keller. Stolpere die Treppen rauf. Das Haus ist alt. Uralt. Es stinkt. Putz bröckelt von den Wänden wie Schorf von alter Haut.
Das Handy in der Jeans piept. Wieso ist es in meiner Hosentasche. Der Kerl hatte es mir doch aus der Hand gestoßen. Ich will nicht simsen. Wer ist Anton. Kenne keinen Anton. Drücke Anton weg. Kann nicht reden. Will nicht reden. Nie wieder reden. Nie mehr simsen. Kann nicht. Bin nicht mehr. Gestern ist tot. Heute ist tot. Morgen ist tot. Tot. Tot. Ich bin tot. Bin der tote Tod. So ein Scheiß. Der tote Tod. Dann gäbe es ihn ja nicht. Den Tod. Und doch bin ich tot. Nur meine Hülle lebt. Etwas. Mein Kopf zerbirst.
Auf den Straßen schmiert Hundescheiße, vermischt mit Menschenurin. An der Ecke der Papierkorb ist nicht geleert. Zeugs liegt daneben. Ich wühle das Handy in den Müll, laufe weiter, immer weiter, die schmutzige, verkotete, verurinierte Straße entlang. Immer weiter.
Menschen hasten vorüber. An mir vorüber. Nehmen keine Notiz. Bestimmt bin ich unsichtbar. Auch gut. Das ist gut. Sehr gut. Aber auch gefährlich. Ich wundere mich nicht. Warum nicht? Keine Ahnung. Es ist wie es ist. Ich sehe die Menschen. Sie sehen mich nicht. Warum lache ich nicht? Das ist doch lustig. Wie im Märchen. Wo eine Zipfelmütze unsichtbar machen kann. Die brauche ich nicht.
Herr Flix kommt auf mich zu. Woher weiß ich, dass es Herr Flix ist? Ich weiß es eben. Herr Flix ist groß und schlank. Und sehr traurig. Er ist nicht gut gekleidet. Heute nicht. Hat nicht geschlafen. Hat seine Frau in flagranti erwischt. Dem Kerl die Rübe zerschmettert. Mit der chinesischen Bodenvase. Ein Erbstück von der verstorbenen Schwiegermutter. War echt. Die Vase. Sein Glück nicht. Der Kerl hatte nicht mal Zeit, aufzuheulen. Die Frau auch nicht. Ihre Rübe ist auch Matsch. Zwei Matschrüben. Herr Flix lacht. Blutflecken im Gesicht. Auf dem Anzug. Ja, er trägt einen Anzug. Hahaha. Einen grauen Anzug. Mit Blutflecken. Neue Mode.
Ich boxe Herrn Flix in den Bauch.
"Aua!"
Er schaut sich suchend um, betastet seinen Bauch. Ich gebe ihm noch einen, laufe weiter.
Herr Flix schüttelt die Fastglatze. Wenn ich unsichtbar bin, kann ich wohl auch durch Wände gehen. Gedanken lesen.
"Autsch! Mein Kopf!"
Mit meinem Gehirn ist was nicht in Ordnung. Hat sich wohl aufgelöst. Alles scheint transparent. Fassade verbröckelt.
Schnell weiter. Der Tag ist erwacht. Sonne wischt grell über die Wahrheit, lässt alles erstrahlen im schmutzigen Glanz. Menschen. Straßen. Häuser. Autos. Busse. Wischt über das graue Grau. Neckt es. Wischt darüber hinweg. Lässt es strahlen. Glitzern. Huscht in die Blätter des alten, dürren Kastanienbaumes.
Ein alter, dürrer Hund hebt ein Bein. Ich zwicke in den Schwanz. Der Strahl stoppt. Ich laufe weiter.
Lärm. Überall Lärm. Wie kann eine erwachende Stadt nur so viel Lärm machen. Die Müllmänner, Engel der Straße, zerren die Tonnen zu der Rampe. Klappe auf. Runter. Klappe zu. Rauf. Ein Dicker stößt die Tür wieder auf. Springt runter. Setzt die Flasche an.
"Musst du schon wieder saufen!" Der Dürre dreht am Lenker. "Immer muss ich fahren."
Der Dicke springt auf, wischt sich den Schaum mit dem Handrücken vom Maul. Lacht. Blöd. Setzt die Flasche nochmals an, stellt sie auf den Boden, zaubert zwei schlaffe Ratten aus einer Tüte, schwenkt sie vor dem Gesicht des Dürren. Lacht. Blöd. Der Dürre hat den Fuß auf dem Gas. Der Dicke schlägt mit dem Kopf gegen die Frontscheibe. Die toten Ratten auch. Der Dürre lacht. Blöd.
Der Vater zerrt das Kinder hinter sich her. Das Kind weint.
"Ich will trinken!"
"Wir sind gleich da."
"Ich will nicht in den blöden Kindergarten!"
"Der Kindergarten ist nicht blöd."
"Doch! Er ist blöd!"
"Du bist blöd!"
"Du bist blöd!"
Der Vater haut dem Kind eine runter. Das Kind reißt sich von der Hand. Der Dicke sieht es nicht. Der Dürre sieht es nicht. Das Kind ist Matsch. Wie die Ratten. Die Frau. Der Liebhaber.
Die Reifen quietschen zu spät. Sirenen heulen auf. Menschen gaffen. Der arme Vater. Das böse Kind. Das arme Kind. Der böse Vater. Krankenautos. Polizeiautos. Rauf auf die Bahre mit dem Kind. Eine Decke auf den Matsch. Der Vater kommt auf die Trage. Ohne Decke. Der Vater schreit. Wimmert. Schlägt um sich.
"Meine Schuld. Meine Schuld."
Ein Pfleger bindet ihn fest. Sticht eine Nadel in seinen Arm. Der Vater wimmert ruhig.
"Meine Schuld. Meine Schuld."
Er schläft ein.
Der Park ist noch kühl von der Nacht. Die Kuppel des Fernsehturmes glänzt im Gold der Sonne. Nichts ist geschehen. Die Kuppel dreht sich langsam. Ganz langsam. Erhaben. Stolz. Sie weiß nichts. Dreht sich zwischen Himmel und Erde. Langsam. Ganz langsam. Die Kunst der Langsamkeit. Nadolny. So ein Scheiß. Jeder wird langsam. Mit dem Alter. Oder schon vorher. Oder noch davor. Dazu braucht es keiner Kunst. So ein Scheiß.
Der Penner auf der Bank greift nach der Zeitung im Papierkorb.
"Scheiß." Der Penner starrt auf Johannes Heesters. "Scheiß."
Der Penner starrt noch immer auf das Bild. Liest: -Johannes Heesters wurde am 5. Dezember 102 Jahre alt -ist das sein wahres Alter? - .
"Scheiß." Der Penner knüllt das Wichsblatt - Berliner Morgenpost - , stampft es mit dem Fuß auf die trockene Erde. "Scheiß."
Der Penner rollt sich in seine Lumpen auf die Bank.
"Scheiß."
Ich zwicke in seine Nase.
"Scheiß."
Zwicke noch mal.
"Scheiß."
Die Sonne glitzert durch die Blätter des Baumes hinter der Bank. Ein Vogel singt. Scheißt dem Penner durch die Zweige ins Gesicht.
"Scheiß."
Der Penner verschmiert die Scheiße in seinem Scheißgesicht. Ich biege in eine Nebenstraße. Hier ist es ruhig. Das Haus ist auch nicht übel. Im Treppenhaus ist es kühl. Die Stufen bedeckt roter Plüsch. Den durchsichtigen Fahrstuhl beachte ich nicht. Will meinen gedämpften Schritten lauschen. Den Schritten auf dem roten Plüsch.
Geile Wohnung. Altes fügt sich in Modernes. Modernes in Altes.
Ein Brief auf der Schreibplatte des alten Sekretärs.
- Geliebte! Für immer Geliebte! Verzeih mir. Verdammte Hure. Wir sehen uns in der Hölle. -
Da liegen sie. Auf dem weißen Bett. Frau Flix und ihr schöner Liebhaber. Ihr junger. Athletischer. Fitnessgestählter. Nackt. Beide. Halb übereinander. Frau Flix ist auch jung. Und schön. Ein Modell. Zermatscht die schönen Birnen, Blut getrocknet auf den langen, blonden Haaren, verkrustet auf den modellierten Brüsten. Eine Hure. Schön. Leblos. Wunderschön. Ihr Liebhaber auch. Mit zermatschten Birnen. Ein Lächeln um die zum Schrei geöffneten Münder, jeder einen Dildo in den verkrampften Händen. Sie einen blauen. Er einen in Rosa. Weich. Biegsam. Schmiegsam.
Auf dem weißen Nachtischen mehr Spielzeug. Weich. Biegsam. Schmiegsam. Das Lämpchen brennt noch immer rosa. Anheimelnd. Leuchtet auf die zermatschten Birnen. In den Scherben des Erbstücks.
Im Fernseher an der Wand läuft ein Video. Ein Porno. Die Frau kniet vor dem Mann vor dem weißen Bett auf dem roten Plüsch. Der Mann reißt den Kopf der Frau an den blonden, langen Haaren nach hinten, stöhnt mit aufgerissenem Mund: "Aaah, jaaa, aaahhh, jaaa…"
Pornos widern mich an. Wozu braucht man Pornos. Um die Frau zu erniedrigen. Vor einem Mann zu knien. Einem Mann, der die Frau an den Haaren reißt. Echt widerlich.
Auf dem anderen Nachtisch steht ein Telefon. Ein altes. Schwarzes. Mit Drehscheibe.
1 1 0 . Ich ziehe den Finger aus dem Loch. Die Scheibe schnellt zurück.
*
Ein Mann in Weiß beugt sich über mich. Mit Augen, die lächeln. Mit weißen Augen. Alles ist weiß. Blendend weiß. Verschwunden das Dunkel. Der Mann ist ein Engel. Kein Müllmannengel. Ein Himmelsengel. Hat die Flügel eingezogen. Zieht mein weißes Hemd vom Körper. Macht mich nass. Angenehm. Seine Hände sind weich. Kühl. Schmiegsam. Biegsam. Der Engel lächelt mit weißen Augen. Verschwindet. Mit ihm das Lächeln. Das blendende Weiß.
*
Sirenen heulen auf. Ich verkrümele mich. Habe meine Pflicht getan. Konnte die Leichen doch nicht verwesen lassen. Wer weiß, ob Herr Flix noch mal hier auftaucht. Eher nicht. Obwohl. TäterOrt.
Der Tag ist jung. Schwül schon. Der Penner verschwunden. Den haben wohl die Jugendlichen vertrieben.
Die sehen alle gleich aus. Schwarze Klamotten. Schwarze Haare. Um jeden Hals eine Kette. Mit einem Pentagramm. Irgendwann hängen sie sich daran auf. Geiles Bild. Würde gern lachen. Die drei baumeln an dem Baum.
Vor ein paar Minuten hat der Vogel gesungen, dabei dem Penner auf den Kopf geschissen. Kann nicht lachen. Bin stumm. Kneife so einem Möchtegernsatan in den Arsch.
"Autsch! Lass das. Ivo!"
"Was soll ich lassen? Hey!"
"Stell dich nicht blöd." Ivo haut Ben eins in die Fresse.
"Du Arschgeige! Hast mich in den Arsch gezwickt."
"Selber Arschgeige. Ich fick dich gleich in den Arsch."
Ben haut Ivo eins in die Fresse.
Ivo krallt in Bens gesteilte Haare. Zerrt daran.
"Lass meine Frisur los!", heult Ben auf. Krallt in Ivos Frisur.
Ich kneife Jo in den Arsch. Der springt auf, sagt ganz ruhig:
"Mit mir nicht. Ihr Arschgeigen. Das melde ich Hubbard."
Jo trabt davon. Das Kreuz der Kette mit dem Pentagramm im Mund.
Einige Schritte weiter noch eine Bank. Eine grün gestrichene. Riecht nach Farbe. Der Zettel - Vorsicht! Frisch gestrichen! - liegt auf der Erde, neben dem Papierkorb.
Die Frau weint. Vielleicht auch nicht. Das Blau ihrer Augen ist verblasst, fast weiß. Nein. Gelbweiß. Das Darum Rot. Rot geweint. Rot gealtert. Was macht das für einen Unterschied.
Hilde liest in einer Zeitung. Hat die Berliner Morgenpost aus dem Dreck vor der anderen Bank geklaubt.
Hilde starrt auf Heesters, liest laut, ohne Brille. Im Alter braucht man keine Brille mehr.
Hilde ist sehr alt. Aber nicht so alt wie der Heesters. Der ist ein Star. Ein Fernsehstar. Und auch sonst. Ja, der Heesters ist wer. Ein ganz Großer ist der. Der Heesters. Sie, Hilde, ein Niemand. Ganz klein. Ganz allein.
Hilde liest:
-Wie alt bist du wirklich?
ARD, 20.15 Uhr.
Man ist nur o alt wie man sich fühlt, sagt ein Sprichwort-und damit hat der Volksmund trotz moderner Fitneß-Welle - Hilde staunt. Die Berliner Morgenpost hat wohl noch nichts von der neuen Rechtschreibung gehört. Ha. Lach. Will sie etwa quer schießen. Nein. Nein. Nicht so ein Blatt. Aber hier doch. Hach. In die roten Augen steigen die Lachtränen. Also:
-Fitneß-Welle, Anti-Aging-Bewegung...
Hach. Wieder so ein Wort. Als ob man das Altern mit Tabletten, Schönheitscremes, Gels, Spritzen, Schneiden, Hormonen, aufhalten könnte. Hormone machen krank. Das haben sie doch neulich im Fernsehen gebracht. Neulich. Wann war neulich. Im Fernsehen. Fernsehen? Oh, mein Kopf. Verdammt. Was ist mit meinem Kopf.
Hilde kennt da so eine. Ursel. Kannte sie. Die schöne Ursel. Wollte nicht alt werden. Hatte einen jungen Lover. For ever joung. Hormone hat sie genommen. Die Ursel. Östrogene. Ja. Ihre Regel wieder bekommen. Die Brüste schön gewachsen. Schön straff. Das Kind in ihrem Leib. Schön groß. Nein. Nicht schön. Krepiert ist die Ursel. Bei der Geburt. Blöde Hormone. Alles geht seinen Gang. Nichts ist mit Natur überlisten. Nichts. Sie, Hilde, ist auch so in die Jahre gekommen. Über die Jahre. Kaum bemerkt. Die Wechseljahre. Gemerkt. Scheißregel weg. Basta. Keine Zeit, darüber nachzudenken. Unsinn auszudenken. Männer interessiert das sowieso nicht. Kennen die Frauen nicht. Sie kennt die Männer. Hatte viele. Konnte jeden haben. Damals. Als sie noch jung war. Schön. Jetzt auch. Diese Penner. Herumtreiber. Tunichtgute. In Massen. Zu schade ist sie sich für so ein Volks. Gesindel.
* Hätten Sie gerne weniger Falten?
* Stören Sie die sichtbaren Folgen der Hautalterung?
* Hätten Sie gerne glattere, schönere Haut?
* Scheuen Sie den teuren Gang zum Schönheitschirurgen?
Mich schüttelt ein Lachkrampf. So ein Scheiß. Alles Geldschneiderei. Alles geht seinen Gang. Alles hat seine Zeit. Auch Falten können schön sein. Lachfalten.
Hilde hat Lachfalten. Nein, Hilde hätte nicht gern weniger Falten. Keine glattere, schönere Haut. Sie stören nicht die Folgen der Hautalterung.
Hilde lässt die Zeitung sinken. Betrachtet fast liebevoll ihre Hände mit den braunen Flecken. Im Gesicht hat sie auch welche. Das weiß sie. Einen Spiegel besitzt sie nicht. Nicht mehr. Wozu auch. Sie lebt schon zu lange auf der Straße. Heute Abend wird sie wieder ihren Schlafplatz aufsuchen. Unter der Brücke. Hugo ihr vielleicht etwas zu essen bringen. Hugo. Fast so alt wie sie. Ihr Liebhaber. Bis jetzt hat sie noch nichts gefunden. In den Papierkörben. Na, bald zieht sie weiter. Der Tag ist noch jung. Hilde kichert:
"Anti-Aging-Bewegung. Die Welt wird immer verrückter."
Hilde grummelt mit ihrem zahnlosen Mund.
"Anti-Aging-Bewegung."
Sie wird der Herr Pilawa bestimmt nicht befragen. Betesten. Nein. Sie, die alte Hilde, nicht.
An der Rathausstraße haben die Fress - und Saufbuden noch nicht geöffnet. Leute lungern herum. Arbeitslose. Schichtarbeiter. Obdachlose. Was weiß ich. Durch die Brettertür schlüpfe ich in eine Bude. Schön geordnet stehen die Getränke in ihren Kästen auf der Erde. Im Regal Lebensmittel. Auf einem Tisch Papiere. So ein Leichtsinn. Die interessieren mich nicht. Daneben ein Stapel Plastiktüten. Mit einer Rose auf der Vorderseite. Wie sinnig. Hinein mit vier Flaschen Wasser. Keksen. Schrippen liegen in großen Körben. Gleich neben der Tür. Hinein in die Tüte. Einige Äpfel. Weg hier.
Die alte Hilde hat die Berliner Morgenpost vor sich ausgebreitet, starrt noch immer den Heesters an, liest mit ihren roten Augen, ohne Brille:
- Aber wie alt ist man denn nun tatsächlich? Und stimmt unser Gefühl oder täuscht es uns? Dieser Frage will Jörg Pilawa heute in dieser Show nachgehen. Prominente Kandidaten werden darin auf ihr wirkliches Alter getestet: Gesundheitsministerin Ulla Schmid (56) ist genauso dabei wie Johannes Heesters (102) … -
"So ein Scheiß."
Hilde knüllt das Scheißwichsblatt zusammen. Aus ihren roten, gelbblauweißen Augen kullern zwei Lachtränen.
"Hatten wir doch schon alles."
Ja. Da hat die liebe Frau Schmidt ja noch so Einiges vor sich. Ob sie wohl durchhalten wird? Bei der Umweltverschmutzung. Dem Foodfraß. Ob sie wohl dann auch einen jungen Pfleger haben wird? Hahah. Sie, die alte Hilde, wird bestimmt hundert. Auch wenn sie schon zehn Jahre auf der Straße lebt. Von Hundescheiße sozusagen. Haha. Hilde kichert jung. Vielleicht ist sie ja schon hundert. Sie hat vergessen, wie alt sie ist. Kommt ihr vor, als lebe sie schon ewig. Aber nicht so ewig wie der Star Heesters.
Übrigens, warum schreiben die in der Zeitung immer hinter jeden Namen das Alter. Ist das so wichtig? Sieht doch blöd aus. Man stelle sich vor, da stünde: Hilde (88) sitzt auf der Bank (4). Im Park (50). Liest Berliner Morgenpost (1). Starrt in den Himmel(?). Spuckt auf die Erde (500000)? Was für ne Zahl. Vielleicht ist die Erde ja noch viel älter. Ist doch Scheißegal. Weg mit dem Philosophieren. Spinnen. Bringt nichts. Es ist wie es ist. Weiter im Text. Spielt mit dem Hund. (3).
Sieht doch blöd aus. Ist es auch. Saublöd. Wer denkt sich nur son ein Scheiß aus.
"Uch", kichert Hilde und streichelt wieder das Fell des dürren Hundes.
Der Hund kennt Hilde. Kommt jeden Tag um die gleiche Zeit. Der dürre, gelbbraune, zottige Hund. Der Streuner. Kommt zu Hilde. Der Streunerin, legt seinen Kopf in ihren Schoß, schnuppert unter ihren Lumpenrock, stellt die Ohren steif, den Schwanz in die Höhe, schlägt ihn auf den Boden.
Der Hund liebt Hilde. Hilde liebt den Hund.
Ich lege zwei Flaschen Wasser auf die Bank. Fünf Schrippen. Daneben die Kekse. Einen Apfel. Schön rot. Der Hund schnappt sich eine Schrippe, rennt davon, buddelt einen Krümel unter den nächsten Baum, hebt ein Bein, strudelt.
Der alte Streuner strudelt seine Marke. Für schlechte Zeiten sozusagen.
Hilde starrt verwundert auf die Köstlichkeiten. Schaut sich unsicher um. Keiner da. Alles still. Auch kein Vogel singt. Der Hund ist auch weg.
Hilde sitzt auf der Bank und wundert sich. Greift zaghaft zur Falsche. Dreht den Verschluss auf. Setzt an. Trinkt. Hastig. Trinkt. Verschluckt sich. Hustet. Sabbert. Trinkt. Schaut sich witternd um. Ist ruhiger jetzt. Greift zur Schrippe. Kaut mit dem zahnlosen Kiefer. Trinkt. Kaut. Trinkt. Schüttelt den grauen Kopf.
"Danke. Danke."
Hilde schaut dankbar in den Himmel, die Sonne, die bedeckt ist mit einem grauen Schleier. Smokschleier. Verhüllt. Trüb.
Der Herr hat alles wohl getan. Sorgt für seine Kinder.
- Lebt im Geist, so werdet ihr die Begierden des Fleisches nicht vollbringen. -
Hilde erschrickt. Verschluckt sich. Kaut. Trinkt. Darauf will sie nicht verzichten. Eher auf Hugo. Auf sein Fleisch. Sein dürres. Faltiges.
Galater 5.21
- Neid, Saufen, Fressen und dergleichen. Davon habe ich euch vorausgesagt und sage noch einmal voraus: die solches tun, werden das Reich Gottes nicht erben. -
Hilde spuckt die Speichelkrümel aus. Nicht essen. Nicht trinken. Nicht huren. Du lieber Gott. Hilde faltet die Hände. Tränen laufen über ihr Gesicht. Der dürre Hund wedelt an, setzt auf die Bank, leckt die Tränen weg. Die alten, salzigen, bitteren Tränen der alten Streunerin Hilde.
*
Der Park füllt sich. Die Bänke. Die Wege. Die Wiesen. Halbnackte Menschen. Im dürren Gras. Am frühen Morgen. Oder ist der Morgen nicht früh. Die Sonne steht sehr tief.
Woher kommen die Menschen. Wohin wollen sie. Hasten an mir vorüber. Sehen mich nicht. Würden auch erschrecken. Aber sehen? Würden sie nicht. Ich schaue in ihre Gesichter. Der Kerl muss ein Gesicht haben. Würde es erkennen. Stünde er jetzt vor mir. Ich weiß, ich finde ihn. Heute. Morgen. Irgendwann. Er entkommt mir nicht.
Die Jeans ist erstarrt. Dreck. Pisse. Sperma. Der Geruch erfüllt die Luft. Beizt die Nasen. Geht unter im Gewühl der Massen.
Das Haus zieht mich magisch an. Birgt wohl ein Geheimnis. Ein schreckliches. Wittere das.
Die Wohnung ist aufgeräumt. Die schönen Matschmenschen entsorgt. Der Fernseher schwarz. Aha. Der Fernseher.
Das Telefon stumm. Keine wunderschöne,chinesische Bodenvase. Shang - Dynastie. Matsch. Ziehe den roten Plüsch vom Fenster.
Hilde!? Stürme auf die Straße. Menschen. Menschen. Die Satansjungen eilen auf mich zu. Lachen. Johlen.
"Um die Alte is es nich schade."
Jo schwenkt einen Beutel. Mit einer Rose auf der Vorderseite.
"Aber der Meister wollte das Herz eines Kindes."
"Eins ist so gut wie das andere, Ben."
"Aber der Geschmack."
"Scheiß drauf. Die Probe haben wir bestanden."
Jo schwenkt den Beutel mit der Rose. Dem Herz von der Hilde. Die Drei biegen um die nächste Ecke.
Auf der Bank liegt der Apfel. Schön rot. Angebissen. Drei Spatzen um ihn herum. Der Streunerköter zerfetzt vor dem Papierkorb. In einer Lache aus Leben. Die Augen verdreht. Die treuen. Das Dolchmesser im Rücken.
Die Sonne blinkt durch den Schleier.
Der Mann in Weiß beugt sich über mich. Mit Augen, die lächeln. Mit weißen Augen. Alles ist weiß. Blendend weiß. Verschwunden das Dunkel. Der Mann ist ein Engel. Kein Müllmannengel. Ein Himmelsengel. Hat die Flügel eingezogen. Zieht mein weißes Hemd vom Körper. Macht mich nass. Angenehm. Seine Hände sind weich. Kühl. Schmiegsam. Biegsam. Der Engel lächelt mit weißen Augen. Verschwindet. Mit ihm das Lächeln. Das blendende Weiß.
*
He. Ich bin es. Ich. Die durch die Stadt taumelt. Schmutzig. Stinkend. Gedemütigt. Verlassen. Sähe mich Jemand, würde er denken, ich stünde unter Drogen. Der Jemand.
Heiner liegt auf der Wiese. Unter der Schleiersonne. Zwischen all den anderen sonnenhungrigen Menschlein.
Plötzlich springt Heiner auf, lacht, tanzt, verbiegt seine langen Arme, die dürren Beine, zu den seltsamsten Figuren, rauft sich die Haare, klatscht in die Hände, springt über die verschreckten, knusprig braunen Menschen, singt:
- So ein Tag , so wunderschön wie heute…
Heiner schwenkt seine unsichtbare Gitarre, kratzt die Saiten, schlägt sie, haut sie, bespuckt sie, küsst sie zärtlich.
- So ein Tag , so wunderschön wie heute…
"Verreckt doch alle! Ihr Idioten"! Die Gitarre schmettert auf eine rote Glatze.
"Nimm deinen Fuß da weg. Idiot!"
Die Glatze brennt. Heult. Spuckt Blut.
Die Gitarre schmettert weiter. Ungerührt.
"Verdammter Wichser. Du bist das! Standest doch an der Mauer. Gewehr im Anschlag. Verräter! Hurensohn! Nazischwein!"
Heiner haut noch immer die Glatze. Kein Mensch rührt sich.
So ein Tag, …
Heiner tanzt zwischen den Leibern. Den ruckenden. Zuckenden. Starrenden. Schweigenden. Heiner, der King. Einmal im Leben.
- Über sieben Brücken musst du geh'n -
Haucht ihnen Leben ein. Tanzt den Totentanz. Den Totentanz der Vergessenen.
Heiner rutscht zusammen. Spuckt Blut. Sein Körper eine leblose Hülle. Die Gitarre an sein Herz gedrückt. Das überquellende. Leidvolle. Unverstandene. Herz.
Lisa kommt auf mich zu, stolpert fast vor meine Füße, beachtet den Drogentoten nicht. Den Heiner. Nicht die aufgeschreckten Sonnenhungrigen auf der dürren Wiese.
Lisa flüchtet. Aus dem Haus. Dem schönen Haus. Vierstöckig. Der Eingang ein Portal. Geflügelt. Wohnungen rechts und links.
Ein Turm vor dem Haus. Sechseckig. Rundes Fenster im Turmdach. Erker. Fenster mit sechs kleinen Scheiben. Alles restauriert. Renoviert. Lisa gruselt es.
Sie liegt halb auf dem Bett. Über ihr ein Himmel aus weißem Tüll, drei rosa Kissen am Rücken, im rosa Neglige.
Rolfi sitzt auf der Bettkante. In voller Montur. Schlips und Kragen. Vertreter. Versicherungen. Müsste eigentlich arbeiten.
"Was soll's." Lisa kichert.
"Diese Frau ist ein Albtraum." Rolfi nestelt an seiner Krawatte. Meint die letzte Helga. "Wir sind Freunde. Dir kann ich alles erzählen. Du hast Verständnis."
"Die heißen in dem Jahrgang wohl alle Helga." Lisa kichert.
"Die wollte mich erziehen. Ich durfte dies nicht. Ich durfte das nicht. Neulich hatte ich so einen schönen Schobskasalat gemacht. Und dann beim Essen sagte sie, sie wolle lieber Tomaten mit Zwiebeln. Dabei weiß sie, dass ich nach Zwiebeln immer Blähungen bekomme."
"Du musstest pupsen." Lisa kichert.
"Ja. Aber sie ging in die Küche und machte Tomaten mit Zwiebeln."
"Witzig." Lisa streckt ein schlankes Bein in die Höhe.
"Und dann noch was." Rolfi sieht in Lisas helle Augen. "Ich habe dir doch gesagt, dass ich Probleme habe."
"Weiß." Lisa kichert.
"Der Arzt hat mir Potenzmittel verschrieben. Viagra. War sauteuer." "So?"
"Ja. Für die Potenz des Mannes kommt die Krankenkasse nicht auf." Rolfi lacht bitter. Schweigt dann. Sagt dann: "Ich hab meine Potenz ja auch versoffen."
"Soso." Lisa rekelt sich wollüstig. Kichert süffisant.
"Jedenfalls stand mein Pullermann." Rolfi grinst zufrieden.
"Pullermann?"
"Der Schniepel. Ist auch egal. Jedenfalls stand er. Wir haben es gemacht."
"Wie oft?"
"So ein, zweimal."
"Und wo liegt das Problem?" Lisa kichert.
"Das Problem? Es war ihr nicht genug. Die hat gesagt, sie braucht einen Mann, der sie so richtig durchfickt."
"Na, na."
"Ansonsten könne sie es sich auch selbst machen. Bei mir bekäme sie nicht mal einen Orgasmus."
"Oh." Lisa zieht ihre Beine an. "Steckst du ihn etwa nur rein? Oder berührst du sie auch?" Lisa schiebt ihre Finger unter ihr Hemdchen. "So?"
"Ja. So. Und noch anders." Rolfi schaut fasziniert unter Lisas Hemdchen. "Aber sie ist nicht feucht. Vielleicht sind das Frauen in dem Alter nicht mehr?"
"Glaube ich nicht." Lisa kichert. "Deine Helga hatte nur keine Lust."
Rolfi legt eine Hand auf Lisas Hand. "Sie will einen Mann mit Geld." In Rolfis Augen glitzert die Gier. "Das habe ich." Rolfi steckt Lisa seine Finger in den Mund. "Und Lust auf dich."
"Ich will auch einen, der immer kann." Lisa steckt ihren Daumen in Rolfis Mund. "Geld ist mir nicht wichtig."
"Viagra. Es lebe hoch!" Rolfi reißt sich die Sachen vom Leib, wühlt seinen Kopf unter Lisas Neglige, nagelt sie auf die Matratze.
"Das Teufelszeug!" Lisa schreit.
Eine Stunde wird gerammelt. Zwei. Drei.? Das Gefühl für die Zeit schwindet. Lisa liegt unter der Sexmaschine Rolfi.
Die Sexmaschine schreit, stöhnt, wimmert.
Rolfi hat den Knopf zum Abschalten vergessen. Sein Köper schwimmt in Schweiß. Seine Birne ist knallrot. Wird blau. Verfärbt sich violett. Sein Atem stockt. Ein gurgelnder Laut. Der Körper schlaff. Leblos.
Rolfi sackt auf Lisa.
Der Penner hockt auf dem Brunnenrand, starrt in das leere Becken.
Der Penner träumt.
Kleine Fontänen plätschern in Kreisen von einer Schale in die nächste, dann in das runde Becken, verkleidet mit farbigem Emaile. Das Wasser fließt durch viele, winzige Öffnungen in das Außenbecken, überschwemmt das Pflaster des Bodens. Kinder kreischen. Spielen mit den Kristallen, die das Sonnenlicht in den Tausenden Wassertröpfchen reflektiert und Blumen, Bäume, Schmetterlinge erstrahlen lässt in purem Gold.
Der Penner knallt mit dem Kopf auf den verschmutzten Beckenrand.
Die Schließer haben die Türen geöffnet. Detektive stehen wartend neben ihnen. Menschen strömen in den Kaufhof. Wie Bäche. Strömen rauf die Rolltreppen. Strömen runter die Rolltreppen. Verharren. Manchmal. Bewundern. Verwundern sich. Könnten alles kaufen. Wenn sie könnten. Lauter wundervolle Dinge, die man nicht braucht. Lockende Dinge. Verlockende.
Ich habe nichts. Brauche nichts. Bin nichts. Ströme raus aus dem unnützen Ding. Diesem Blender. Diesem Verschwender. Diesem Abzocker. Ströme mit den Menschen auf den Platz. Durch vdie Straßen. Blicke in jedes Gesicht. Es gibt dieses Gesicht. Muss es geben. Erkenne es. Würde es erkennen. Das Gesicht. Die Hände. Wie Schaufeln. Ströme zurück zum Platz.
Lisa im rosa Neglige. Stiert den Penner an. Dreht seinen Kopf. Leere Augen stieren Lisa an. Drogen. Lisa schaudert es. Sie denkt an Rolfi. Seine leeren, toten Augen. Was soll nun werden. Lisa strömt in den Kaufhof. Wird wohl auch unsichtbar.
"Oh, mein Gott! Mein Gott!"
Die Frau zerrt an dem Kind.
"Oh, mein Gott!"
Das Kind ist auf den Bauzaun geklettert, wollte spielen. Der Bauzahn hat gewackelt, ein Balken sich gelöst, ist über dem Kind auf den Boden gefallen.
Die Frau versucht, das Kind unter dem Balken hervorzuziehen. Das Kind schreit. Die Frau schreit. Der Vater schreit: "Verfluchte Scheiße. Der ganze Platz ein ewiger Bauplatz! Können die hier nicht vernünftig abriegeln?!!" Der Vater schwenkt den Balken.
"Schweine! Alle!"
Die Frau wiegt das Kind im Arm.
"Oh, mein Gott. Mein Gott."
Hinter dem Zaun schreien die Händler.
"He! Sie da! Ja. Sie! Sie sehen so blass aus. Wie wär's mit ein paar Vitaminen?"
Die blasse Frau kauft ein Pfund schwarze Kirschen und vier riesengroße, saftige Pfirsiche.
"Das gibt Kraft." Der junge Händler strahlt die Frau an, packt die Köstlichkeiten in eine Tüte. "Und Schönheit."
"He. Du Arsch! Mach meine Frau nicht an!" Der Mann der Frau packt den Händler hinter seinem Brettertisch am Kragen. "Noch son blöder Spruch un du bist in Arsch. Wichser!"
"Beruhige dich. Haselschnurzi." Die blasse Frau packt ihren Mann am Arm. "Lass ihn. Ich gehöre nur dir."
Der Mann sieht seine Frau an: "Bekomme ich jetzt das Versprochene?"
Seltsam ist das Leben. Scheiße ist es. Lebe ich. Hat mich der Kerl tot gefickt. Ist das das Leben nach dem Leben. Das davor. Daneben. Parallel. Hell. Dunkel ist es. Scheiße. Widerlich. Oben wie unten. Leben. Was ist das das.
Das Perverseste überhaupt. Leben.
Das soll Kunst sein. Entsetzen durchbrennt mich.
Verweinte Kindergesichter. Verzweifeltes Geschrei schockt von dem Plakat. Kunstszene. Soll die Skandalkünstlerin Jill Greenberg doch ihre eigenen Kinder missbrauchen. Ihnen Lollis schenken, wegnehmen, um zu sehen, wie sie reagieren und sie dann fotografieren. Da nützt auch der Vorwand - wie kleine Kinder (2 bis 3 Jahre alt) reagieren würden, wenn sie um den Zustand unserer Kriegs - geschüttelten Welt wüssten -, nichts.
Heuchlerin. Sadistin. Sie wissen nun mal nichts. Die Kinder. Können nichts wissen. Wüssten nichts. Sind zu klein. Gehörst ins Irrenhaus. Wie kann man Kinder mutwillig zum Weinen bringen. Egoistin.
- Als Mutter weiß ich, wie schnell Kleinkinder weinen. Keinem der Kinder wurde wehgetan. -
Der reinste Zynismus. Vielleicht gibt es ja ein Tränenmeer.
"Entartete Kunst ist das."
Die Frau vor der Litfasssäule wischt über ihre Augen, flüstert.
"Hatten wir schon. Ich weiß. Aber das hier trifft den Kern."
Die Freundin der Frau ist tot. Gisela. Wäre sie doch sofort zu ihr gefahren.
"Drei Männer stehen vor meinem Bett." Gisela weint am Telefon.
"Hol die Polizei."
"Da ist keiner. Haben die gesagt."
"Dann schlaf jetzt."
"Ich habe Angst. Sie sind wieder da."
"Dann fahr nach Hause."
"Aus der Mülltonne hängt ein Arm."
"Was für ein Arm."
"Von dem toten Kind."
"Von welchem toten Kind."
"Das vor meinem Haus."
Gisela hat sich tot gesoffen. Wollte nicht mehr. Nachdem ihr Mann an Krebs krepiert ist. Sie hat nicht darüber geredet. Das ist es ja. Keiner sollte in ihr Herz sehen. Auch sie nicht. Die Frau wischt die Tränen weg. Die armen Kinder.
"Sie bewegt sich. Sieh doch. Der kleine Finger."
Eine Stimme. Leise. Ängstlich. Hoffnungsvoll.
Eine Träne tropft auf meinen kleinen Finger. Den linken. Natürlich bewegt er sich. Der kleine Finger. Mein kleiner Finger.
Gisela hat ein Grab auf der Grünen Wiese. Regen fällt. Das Gras über dem Grab wächst. Gänseblümchen blühen. Löwenzahn. Wunderschöne gelbe Blüten. Über dem Grab. Dem Massengrab. Der Wind weht darüber. Pusteblumen. Gehören nur dem Wind. Der trägt sie mit sich fort. Wohin? Zu einem anderen Grab. Massengrab. Einem vergessenen.
Das Haus. Lockt. Ein verzaubertes Haus. Ein geheimnisvolles Haus. Eine Verwirrte stürmt heraus. Eine Verrückte. Die Züge verzerrt. Zerzaust die langen, blonden Haare. Am Körper nur schwarze Strapse. Strümpfe. Stöckelschuhe. Eine Verrückte.
Lollo legt den Hörer auf die Gabel. Geht zum Fenster. Zieht die Vorhänge zurück. Der Vollmond flutet sein Licht ins Zimmer. Lollo lächelt erregt. Eine Vollmondsektsexnacht.
Eine Vollmondsektsexnacht mit dem verdammten Kerl. Scheiße. Ach, Scheiße.
Lollo konnte doch nicht ahnen, dass der Kerl ein Sadist ist. Ein Ungeheuer. Scheiße. Scheiße.
Handschellen hat der ihr angelegt. Gefesselt hat er sie. Geknebelt. Missbraucht. Scheißgeld. Scheißfotos. Scheißwohnung.
In dem schönen Haus. Gleich neben Herrn Flitz. Dem Mörder. Haha. Das weiß Lollo natürlich nicht.
Lollo lacht laut. Tränen laufen über ihr verschmiertes Gesicht. Make up. Alles hin. Sammeln sich neben den Grübchen unten an ihrem Hals.
Lollo lacht. Blöd. Zu blöd. Hände wühlen in ihrem langen Haar. Dem blonden. Schönen.
Lollo spürt noch immer die Erregung. Das Kribbeln. Als sie nackt da steht. Vor Jan. In Strapsen. Haha. Lauscht noch immer der Musik. Der medialen. Wellenrauschen. Ozeanklänge. Rekelt sich auf der schwarzen Ledercouch. Trinkt. Trinkt. Zu viel. Zu viel. Champagner. Jan schießt mit der Dig.
"So. Ja. So. Kopf nach hinten. Beine öffnen. Ja. Gut. Oh! Ja."
Ja. Tolle Bilder. Toller Champus. Tolle Lollo. Toller Jan.
Jan trägt Lollo in das Zimmer nebenan.
"Keine Angst, Lollo. Es ist ein Spiel."
Die Scheinwerfer blenden Lollo. Das rote Auge der Kamera irritiert sie. Stricke. Handschellen. Knebel. Augenbinde. In der Ecke vier Vermummte. Folterknechte. Ein Spiel.
Her damit. Jan. Toller Jan. Und nun rein in die Höhle. Die heiße. Feuchte. Nasse. Die Grotte. Her mit den Pfoten. Her mit den Schwänzen. Den Geilen. Nur her damit. Sex pur. Immer her damit. Lollo kann was ab. Ist ja nur ein Film. Ein Porno. Oh, Gott. Lollo braucht Geld. Liebt den Luxus. Den Champus. Also. Her damit.
Lollo ohne Augenbinde. Ohne Knebel. Soll sehen, soll schreien. Wände schallgedämpft.
"Ich brauche deine Augen." Jan ist geschäftig. "Deine Stimme. Deine Schreie."
Vier Kerle zerren gierig an Lollo. Rauf auf die Folterbank. Aus rohem Holz. Arme durch die Ringe. Beine auch. Lederne Lendenschurze wippen. Auf. Ab. Auf. Ab. Darunter Riesenschwänze. Keine Gesichter. Schwarze Masken.
Lollo zittert. Zittert in gruseliger Erwartung. Spürt hundert Hände. Auf ihrem Körper. Dem Leib. Hundert Lippen. Saugen ihren Mund. Schlürfen ihren Saft. Ihr Leben.
Lüsternes Feuer blitzt aus Augenschlitzen. Handschuhhände reiben Lollos Körper. Acht. Handschuhhände. Animalische Berührungen. Unanständige Berührungen. Berührungen, die Lollo nie zuvor erlebte. Die Jan auf Filme bannt.
"Eine wunderschöne Hexe haben wir da."
Eine Hand in ihrem Schoß. Eine schwarze Handschuhhand.
"Halt doch ihre langen, blonden Haare fest. Zeigen wir ihr, was Sache ist."
Die Kerle zeigen Lollo, was Sache ist. Hecheln. Lachen. Nie erlebte Sache. Überaus prickelnd.
"Verdammte! Sauigel! Schweine!"
"Gut. Lollo. Ja. Lollo. Schrei. Lollo. Gib's ihnen! Lollo. Gut!"
Lollo bebt. Lollo schreit.
Jan schenkt Champus nach.
"Ruhig, Lollo. Ist gleich vorbei."
Lollo lacht. Lollo bebt. Lollo braucht Geld.
Fackeln in den Ecken. Fast nieder gebrannt. Gespenstisch der Keller. Das Gewölbe. Tief unter der Erde. Sehr tief. Fledermäuse flattern. Lollo fällt. Tiefer. Noch tiefer. Sieht, was sie sehen soll. Vampirgesichter. Starren. Böse. Sehr böse. Grinsen.
Schemenhafte Umrisse. Fackeln flackern. An steinernen Wänden. Spinnen kriechen. Langsam. Sehr langsam. Riesige Spinnen. Vogelspinnen. Bestimmt. Giftige Vogelspinnen.
Keuchen. Über Lollo. Ächzen. Stöhnen.
"Wir nehmen sie von hinten."
Von hinten. Einer nach dem anderen.
Lollo in Lust. Lollo in Qual. Lollo. Die Hexe. Abra. Kadabra. Flutsch. Schrumpft. Ihr Ungeheuer.
Vier Käfer kriechen über Lollos geschundenen Körper. Eklig. Schwarz. Verschwinden in dunklen Ecken.
Jan befreit Lollo.
Lollo rennt in die Küche. Die Steakmesser! Haha. Lollo stürzt sich auf Jan. Sticht in jede Öffnung. Wieder. Und wieder.
Die Hexe ist verschwunden. Lollo ist Lollo.
Lollo liegt über Jan. Schreit. Brüllt. Windet sich. Rauft ihr Haar. Blut! Blut. Überall. Blut.
Lollo ist eine Mörderin. Hetzt zum Fahrstuhl. Den gläsernen. Haut mit den Fäusten dagegen.
"Mörderin! Mörderin!"
Lollo taumelt. Tritt mir auf die Füße. Schreit:
"Tod und Sühne! Tod und Sühne!"
Schnell nach oben. In den vierten Stock. Über den roten Teppichplüsch. Lautlos. Unsichtbar.
Die Nachbarin beugt sich über Jan.
"Er lebt noch."
Herr Flix steht in der Tür.
"Was ist denn hier los?!"
"Lollo ist verrückt geworden."
"Rufen Sie die 112!"
Herr Flix. Der wagt sich hier her. Ach, ja. Die Täter suchen immer den Ort ihrer Verbrechen. Kennt man ja von den Krimis. Sucht wohl seine Frau. Den Liebhaber. Die Vase. Alles Matsch. Matsch. Ich kichere. Herr Flix wittert. Ich kichere wieder. Kann er mich hören?
"Tauch unter."
Herr Flix fasst an sein Schienbein. Sein rechtes. Er bekommt noch einen. Härter diesmal.
"Die Bullen sind gleich hier."
Herr Flix guckt erschreckt. Wittert.
"Los! Hau ab!"
Herr Flix türmt. Türmt auf die Straße.
Die Verrückte hockt vor der Tür. Die Lollo. Wimmert:
"Schuld und Sühne. Schuld und Sühne."
Ich stoße Lollo vor mich her.
Herr Flix rennt durch die Menge. Über den Platz. Hebt den schweren Deckel neben dem S-Bahneingang. Verschwindet. Zieht ihn über sich. Den schweren Deckel.
"Schuld und Sühne. Schuld und Sühne."
Der Mann in Weiß beugt sich über mich. Mit Augen, die lächeln. Mit weißen Augen. Alles ist weiß. Blendend weiß. Verschwunden das Dunkel. Der Mann ist ein Engel. Kein Müllmannengel. Ein Himmelsengel. Hat die Flügel eingezogen. Zieht mein weißes Hemd vom Körper. Macht mich nass. Angenehm. Seine Hände sind weich. Kühl. Schmiegsam. Biegsam. Der Engel lächelt mit weißen Augen. Verschwindet. Mit ihm das Lächeln. Das blendende Weiß.
*
Die Frau starrt noch immer auf die Fotokinder der Jill Greenberg. Die Kleinen. Weinenden. Misshandelten. Der Schmerz rührt Lollo. Sie weint auch. Setzt sich auf den Brunnenrand. Neben den Penner. Der schläft.
Lollo weint.
"Schuld und Sühne."
Der Penner schläft seinen Drogenrausch. Träumt von der Schönheit des Brunnens. Den Hunderttausend kleinen Sonnenbällchen. Taucht seine Finger ins klare Wasser, schnippt die winzigen Wellen, wäscht sein scheißschweißverschmiertes Scheißgesicht in dem klaren Wasser. Seine Scheißklamotten schaukeln wie dunkle Boote. Auf den Sonnenwellen. Im klaren Wasser.
"Scheiß". Der Penner pennt. Der Penner spricht im Traum. Der Penner träumt.
"Scheiß."
Der Penner träumt von den Zauberweibern.
"Scheiß."
Die konnten Eis, Schnee, Hagel machen. Einfach so. Die Früchte am Baume verfaulen lassen. Oh, Mann. Scheiß.
- Zeig mir die Frucht, die fault, eh man sie bricht. Und ich werd' im Augenblicke sagen- verweile doch du bist so schön. -
Der Penner verweilt. Lacht. Weint.
Ja, er, der Penner, war nicht immer der Penner. Ein Studierter war er. Ein angesehener Mann. Ein Dichter. Ein Philosoph. Ja, und siner Zeit weit voraus. Scheißgesellschaft. Frisst sich selbst auf.
- Naht euch wieder, schwankende Gestalten, die früh sich einst dem trüben Blick gezeigt. Versuch ich wohl, euch diesmal festzuhalten? -
Der Penner träumt.
Es war im Jahre 1553. Irgendwo hier in Berlin. Da lebten zwei arge Zauberinnen. Die stahlen der Nachbarin ein junges Kind. Töteten es. Zerstückelten es. Kochten es. In ihrem Hexenkessel. Verflucht.
Die Mutter suchte ihr Kind. Besuchte die Nachbarin. Warf einen Blick in den Hexenkessel. Zufällig. Gliederlein schwammen in der Brühe. Der Hexenbrühe. Kindesgliederlein. Die Mutter entwich. Entsetzt. Schweigend. Zeigte die Untat an dem Rate. Der sandte alsbald seine Männer. Die ergriffen die Weiber. Die Hexenweiber. Befragten sie.
"Welche Absicht verfolgtet ihr mit dem Geköch?!"
Ein Unwetter wollten sie brauen. Die Weiber. Die Hexenweiber. Einen Frost. Alle zukünftige Blüte sollte verderben. Die Frucht auch.
"Euch soll nach Verdienst gelohnet werden!"
Die Schergen schleiften die Weiber zum Tore hinaus. Die Hexenweiber. Zwickten sie. Mit glühenden Zangen. Erichteten einen Scheiterhaufen. Riesig. Hoch. Verbrannten sie. Draußen. Auf dem Anger. Lebendig.
"Scheiß!" Der Penner wacht auf. "Feuer! Feuer!"
"Bist du das Zauberweib?!" Der Penner starrt Lollo an. "Her mit den Gliederchen."
Lollo starrt den Penner an.
"Penn weiter. Depp. Du."
Ich stoße den Penner auf den Brunnenrand.
"Feuer! Feuer"!
Niemand rührt sich.
Lisa strömt aus dem Kaufhof. In einem schwarzen Kostüm. Hackenschuhen. Handtasche. Sehr elegant. Ohne rosa Neglige.
Türsteher und Detektiv nicken ihr zu. Charmant. Zuvorkommend.
"Besuchen Sie uns bald wieder."
Lisa setzt sich neben Lollo auf den Brunnenrand. Starrt zu der Frau. Den weinenden Kindern. Dem Penner.
"Der hat se nich alle."
"Der ist hin."
"Mein Freund hat sich tot gefickt." Lisa schwimmt in Lollos Augen. Öffnet ihre neue Tasche. "Hier. Zieh das über."
"Danke." Lollo zieht das schwarze Kleid an. "Trägst du nur Schwarz?"
"Nur bei Trauer."
"Wo ist er. Der, der …Totgefickte?"
"Der Tot - Gefickte?"
"Ja. Der."
"In der Wohnung."
"Ich habe Jan umgebracht. Erstochen. Mit dem Steakmesser."
"Bist du verrückt?!"
"Der hat mich von vier Kerlen ficken lassen. Bei so einem Mittelalterspiel. Und gefilmt."
"Schweine. Das."
"Hab überall blaue Flecken." Lollo zeigt Lisa die Flecken an den Armen. Den Beinen. "Hier, schau mal. Da auch. Möchte meine Möse nicht von innen sehen."
"Möse?"
"Haben die gesagt. Schweinekerle."
"Schweine. Monster. Und nun?"
"Wir müssen hier weg. Die suchen uns." Lollo steht auf. "Untertauchen."
Lisa und Lollo tauchen unter. Strömen mit den Menschen. Polizeisirenen tönen den Platz. Die Menschenmenge macht Platz.
"He! Du! Hast du eine Verrückte gesehen?!"
"Selber verrückt. Scheiß." Der Penner spuckt dem Bullen vor die Füße. "Feuer!"
Der Bulle zerrt den Penner an den Haaren. Den langen. Schmutzigen. "He. Alter. Penne nicht. Die saß doch vorhin neben dir. Los. Raus damit. Oder wir nehmen dich mit aufs Revier!"
Der Penner steht auf. Torkelt. Fällt dem Bullen an die Brust. Lallt: "Ick komme mit. Freiweillig."
"Lass den Arsch. Der is breet."
Der andere Bulle nickt dem Bullen zu.
"Weiter. Der weeß nischte."
Die Bullen laufen in Richtung Kaufhof.
Der Penner knallt auf den Brunnenrand.
"Feuer!"
Falsche Fährte. Ich lache schadenfroh. Setze mich zu dem Penner. Auf den Brunnenrand. Streiche ihm die Haare aus dem Gesicht. Die verfilzten. Schmutzigen. Langen.
Der Penner träumt. Lächelt. Träumt. Von der weißen Frau im Schloss. Der Gräfin von Orlamünde. Auf der Plassenburg saß sie. Entbrannte in heißer Liebe zu Albrecht, dem Schönen. Burggraf von Nürnberg seines Zeichens. Aus dem Hause der Hohenzollern. Verwitwet war sie. Die Gräfin Orlamünde. Hatte zwei Kinder. Einen Knaben und ein Mädchen. Albrecht, der Schöne, entbrannte auch. Wollte sie heiraten. Wenn da nicht die Augen gewesen wären. Die vier Augen. Die vier Kinderaugen.
"Bring die Kinder um", sagte die Gräfin Orlamünde zu Hayder. Dem Dienstmann. "Ich werde dich reich beschenken."
Hayder ging, die Tat zu vollführen. Hörte nicht auf das Flehen der unschuldigen Kinder.
"Lieber Hayder, lass mich leben,
Ich will Dir Orlamünden geben,
Auch Plassenburg, des neuen,
Es soll Dich nicht gereuen."
Sprach der Junge.
"Lieber Hayder, lass mich leben,
Ich will Dir alle meine Docken (Puppen) geben!"
Sprach die Tochter.
Den Mörder rührte es nicht. Er vollbrachte die Tat. Die schreckliche. Und noch viele andere mehr. Gerichtet lag er eines Tages auf der Folterbank. Bereute die Tat. Dachte an die Worte. Die Worte der unschuldigen Kinder. Doch es war zu spät. Der Tod war wohlverdient.
"Lieber Hayder, lass mich leben,
Ich will Dir Orlamünden geben,
Auch Plassenburg, des neuen,
Es soll Dich nicht gereuen."
Sprach der Junge.
"Lieber Hayder, lass mich leben,
Ich will Dir alle meine Docken (Puppen) geben!"
Sprach die Tochter.
"Scheiße!" Der Penner springt auf. "Scheiße! Die Schlampe hat ihre Kinder selbst getötet! Hat Nadeln in die zarten Hirnschalen gesteckt! Scheiße!"
Ich streichle den Arm des Penners. Lege seinen Kopf an meine Schulter.
"Die vier Augen waren die Augen seiner Eltern", sage ich. "Die Geschichte ist mir bekannt."
Der Penner schluchzt. "Der Burggraf hat die Gräfin nicht geheiratet." Der Penner lacht. "Dieses Miststück."
"Ruhig, ruhig." Ich streichle weiter. "Die Gräfin muss ihre Schuld sühnen. Als weiße Frau umgehen."
"Nein! Nein!" Der Penner stößt mich zur Seite. "Nein! Im Jahre 1709 beim Schlossbau!", schrie er. "In der Mauer war ein weibliches Skelett. Die weiße Frau. Auf dem Domkirchhof wurde sie begraben. Aber sie kam wieder. Sie kommt immer wieder. Sie ist noch da! Ich habe sie gesehen! Ein Unglück geschieht. Ein Unglück geschieht. " Der Penner kuschelt sich an mich, flüstert: "Ich habe Angst."
"Brauchst du nicht", sage ich. "1713 ist sie zum letzten Mal aufgetaucht."
"Wer?"
"Die weiße Frau. Beim Tode König Friedrichs I.. Friedrich der II. hat dann mit ihr kurzen Prozess gemacht. Die Wache fasste das Gespenst und nahm es öffentlich in die Fiedel." (stellte sie an den Pranger)
"Es nutzte nichts", flüstert der Penner. "Sie tauchte immer wieder auf. Sie hatte noch nicht genug gebüßt. Sie tauchte immer wieder auf. Sie kündete die Tode an. Die Tode der Hohenzollern. Die Tode der Fürsten."
Hach. Die gibt es ja nicht mehr. Und das Schloss zu Berlin auch nicht. Soll aber wieder aufgebaut werden. Dort, wo jetzt der Palast steht. Verrottet. Verkommen. Verschmäht. Und doch einst so geliebt. Das Lampengeschäft. An der Spree. Das Volk ist schon vor ihm untergegangen. Und neu auferstanden. In einer überholten, unmoralischen Form. Hoch lebe der neue Geist!
Der Genius Geld. Macht. Sex.
Ach. Scheiße.
"Ruhig." Ich fahre dem Penner mit der Hand über sein Scheißgesicht. "Ruhig. Die weiße Frau ist tot. Ist Legende. Sage."
"Sie ist da." Der Penner flüstert. Die Augen aufgerissen. "Sie geht um im Schloss. Als unheimlicher Rachegeist. In einem langen, weißen Gewand. Mit gleicher Haube. Den langen Witwenschleier hinten zurück geschlagen. Des Nachts wandelt sie durch die Gänge. Türen springen auf. Türen fallen zu. Schlüssel rasseln. Überall ist ein großer Lärm. Ein unheimlicher Lärm. Ein Kommen. Ein Gehen. Alle Gemächer erstrahlen im hellsten Glanz. Bereit zum Empfang der Gäste. Doch am nächsten Morgen ist alles an seinem Platz. Keine Menschenhand hatte je daran gerührt." Der Penner springt auf. Fuchtelt wild mit den Armen. Schriet plötzlich: "Ich sehe sie! Ich sehe sie! Sie trägt schwarze Handschuhe! Es passiert ein Unglück!" Der Penner sackt zusammen.Flüstert wieder: "Sie hat immer schwarze Handschuhe getragen,bevor ein Unglück geschah."
"Ruhig", sage ich. "Ruhig. Alles ist o.k."
"Miststück. Miststück", murmelt der Penner.
*
Ich eile weiter. Habe keine Zeit zum Sinnieren. Muss ihn finden. Der Mittag drückt über der Stadt. Die Schleiersonne erstickt jegliches Tun. Ich muss weiter. Sehe in einer Seitenstraße die Satansanbeter. Die Mörder der alten Hilde. Was haben die mit ihrem Herz gemacht. Der arme Hund. Der ist auch hin. Der Streunerköter der alten Hilde. Mit den Tränenaugen.
Die drei schwenken die Beutel. Mit der Rose auf der Vorderseite.
"Da hinein kommt Lisa", gröhlt Ben.
"Und da hinein Lollo." Jan stülpt sich die Tüte über den Kopf.
"Erst mal finden. Deppen!" Rudi zeigt gerade aus. "Icke globe, die sind gradeaus geloofen."
"Hurensöhne!" Ich trete Rudi vors Schienbein. "Lasst die Frauen in Ruhe."
"Spinne icke?!"
Rudi ballt seine Fäuste. Verpasst mir eine Kopfnuss. Im Reflex. Sieht mich ja nicht.
"Habt ihr det ooch jehört?"
Ich bekomme noch zwei Kopfnüsse.
Weiße Sterne. Weiße Frau. Alles weiß. Blendend weiß. Um mich herum. Grellt meine Augen. Brauche eine Brille. Eine Sonnenbrille. Mit dunklen Gläsern. Ich höre Stimmen. Kann sie nicht zuordnen. Will meine Augen öffnen. Es gelingt mir nicht. Alles weiß.
"Wir mussten sie in ein künstliches Koma versetzen."
"So?"
"Ja. Um die Schmerzen zu lindern. Sie sehen doch, wie zugerichtet sie ist."
"Amelie." Amelie? Meinen die mich? Ja, ich heiße Amelie. Was ist los? wo bin ich? Was ist mit mir? Eine Träne tropft auf meine Hand. Eine heiße Träne. "Amelie."
"Wann wird sie vernehmungsfähig sein?"
"Das kann ich nicht sagen. Aber sie hat eine gute Konstitution."
"Rufen Sie mich bitte an, wenn sie soweit ist."
"Amelie. Ich liebe dich."
Das ist die Tränenstimme.
*
Der Mann in Weiß beugt sich über mich. Mit Augen, die lächeln. Mit weißen Augen. Alles ist weiß. Blendend weiß. Verschwunden das Dunkel. Der Mann ist ein Engel. Kein Müllmannengel. Ein Himmelsengel. Hat die Flügel eingezogen. Zieht mein weißes Hemd vom Körper. Macht mich nass. Angenehm. Seine Hände sind weich. Kühl. Schmiegsam. Biegsam. Der Engel lächelt mit weißen Augen. Verschwindet. Mit ihm das Lächeln. Das blendende Weiß.
***